Studien zur Wiener Geschichte. Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien, Bd. 50, 1994

Der „Verein für Geschichte der Stadt Wien“, der Herausgeber der „Studien zur Wiener Geschichte“, wurde 1853 als „Alterthums-Verein zu Wien“ gegründet und erhielt 1918 seinen bis heute gültigen Namen. Er hat seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs seinen Sitz im Wiener Stadt- und Landesarchiv und dient der Erforschung der historischen Entwicklung der Stadt und der Verbreitung der gewonnenen Erkenntnisse durch Vorträge, Führungen und Publikationen. Die Publikationstätigkeit des Vereins begann 1856 mit dem Periodikum „Berichte und Mittheilungen des Alterthums-Vereines zu Wien“ und wurde bis heute mit einer umfassenden Edition der „Quellen zur Geschichte der Stadt Wien“, mit der Erarbeitung einer „Geschichte der Stadt Wien“, einer Monographien-Reihe und durch Periodika ausgebaut: vierteljährlich erscheinen die „Wiener Geschichtsblätter“ und jährlich die hier besprochenen „Studien zur Wiener Geschichte“. Vorläufer dieser Studien waren die von 1919 bis 1938 erschienenen „Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Stadt Wien“, in denen regelmäßig umfangreichere wissenschaftliche Aufsätze publiziert wurden. Mit dem „Anschluß“ Österreichs an Hitlerdeutschland 1938 gab man diesen Mitteilungen den neuen Namen „Jahrbuch des Vereins für Geschichte der Stadt Wien“ und eine neue Bandzählung. Im Zweiten Weltkrieg wurde das Jahrbuch 1942 eingestellt, 1946 wurde zwar ein neuer Redakteur eingesetzt, der Titel der Publikation aber nicht geändert. Erst seit 1981 erscheint das Jahrbuch unter seinem jetzigen Titel.

Aus Anlaß der Publikation des fünfzigsten Bandes des Jahrbuchs hat die Herausgeberschaft im Vorwort eine kurze Statistik erstellt, die einen groben Überblick darüber geben soll, welche Themenbereiche bisher bearbeitet wurden.

Bei der zeitlichen Einordnung der Aufsätze läßt sich ein eindeutiges Schwergewicht - etwa ein Drittel - von Studien zum 18. und 19. Jahrhundert feststellen, das Mittelalter wird in etwa einem Fünftel der Artikel behandelt, die frühe Neuzeit und das 20. Jahrhundert sind mit ca. zehn Prozent gleich stark vertreten. Über ein Viertel der Beiträge behandelt im Überblick mehrere dieser Epochen. Die inhaltliche Zuordnung der Beiträge gestaltet sich schwieriger, da die Einordnung in bloß ein Themenfeld meist ungenau erscheint. Dennoch kann festgestellt werden, daß fast die Hälfte der Aufsätze biographische, genealogische und personengeschichtliche Bezüge haben, darunter einige zur jüdischen Geschichte und in den letzten Jahren auch zur Frauengeschichte. Ein großer Teil der Arbeiten fällt in das Gebiet der Wirtschafts- und Sozialgeschichte, der Verwaltungs- und Verfassungsgeschichte Wiens und in jenes der politischen Geschichte. Siedlungsgeschichte, Stadtplanung und Topographie nehmen in der Themenpalette des Jahrbuchs ebenfalls einen breiten Raum ein, ebenso wie kultur-, alltagsgeschichtliche und volkskundliche Aufsätze. Weiters sind Kirchengeschichte, Kunst- und Musikgeschichte, Literatur und Theater, Publizistik und Archäologie vertreten. Ein geringerer Teil der Arbeiten im Jahrbuch beschäftigt sich mit wissenschaftsgeschichtlichen und theoretischen Bereichen der Geschichtsforschung.

Die Herausgeberschaft betont, daß die Veröffentlichung von Arbeiten junger Wissenschafter und Wissenschafterinnen eine „wesentliche Aufgabe“ ihres Jahrbuchs sei.

Die „Studien zur Wiener Geschichte“ wenden sich sowohl an das wissenschaftlich geschulte Fachpublikum als auch an sogenannte Laien, für die dieses Jahrbuch aufgrund seiner inhaltlichen Schwerpunktsetzung fundierte und lesbar aufbereitete Informationen zur Geschichte Wiens liefert.

Die im vorliegenden Band erschienenen Aufsätze umfassen einen Zeitraum vom Mittelalter bis zur unmittelbaren Nachkriegszeit.

Ferdinand Opll erforscht die Geschichte der Kirche „St. Maria bei St. Niklas vor dem Stubentor“ und geht der Frage nach, ob es sich hier um eine „frühbürgerliche Kirche“ handelt, die auf eine Initiative von Kaufleuten gegründet worden ist. Dem Artikel ist eine Quellendokumentation angeschlossen.

Renate Zedinger rollt in ihrem Aufsatz „Erziehung in Wien“ die jahrelange Vorbereitung des Erbprinzen Franz Stephan von Lothringen auf die Heirat mit der zukünftigen Kaiserin Maria Theresia, am Hof Kaiser Karls VI auf. Hervorragend recherchiert und zudem spannend erzählt, illustriert sie hier, wie die Heiratspolitik der europäischen Adelshäuser sich im Alltag des Erbprinzen und seines Schwiegervaters niederschlug.

Mit akribischer Genauigkeit stellt Maria Habacher die kurze Geschichte der technologisch-gewerblichen Sammlung im „K. K. Fabriksprodukten-Kabinett in Wien“ von 1806 bis 1815 dar, das eine der Maßnahmen zur Förderung des Gewerbes in Wien bildete.

Dem 50. Todestag der Wiener Dichterin und Schriftstellerin Alice Pollak-Gurschner, die unter dem Pseudonym Paul Althof publiziert hat, gedenkt Eberhard Würzl in seinem Aufsatz „Vom Ringstraßenpalais in die innere Emigration“. Es ist dies ein Beitrag zur Frauengeschichte und zur Geschichte der Juden in Wien.

Zwei Artikel behandeln die Geschichte des Ersten Weltkriegs. Christian Oggolder analysiert die Wechselwirkung von Ereignis und Berichterstattung anhand der Berichte in der liberalen Neuen Freien Presse, der sozialdemokratischen Arbeiterzeitung und der christlich-sozialen Reichspost über das Attentat in Sarajevo und zieht dabei Parallelen zur den Reaktionen der österreichischen Zeitungen auf den Krieg im ehemaligen Jugoslawien. Marion Breitner leistet mit „Hinter der Front“ einen Beitrag zur Alltagsgeschichte des Ersten Weltkriegs, indem sie die Versorgungslage der Zivilbevölkerung Wiens anhand von Zeitungsberichten recherchiert und detailliert darstellt.

Gerhard Melinz und Susan Zimmermann stellen in „Getrennte Wege“ die Wohlfahrtspolitik Wiens und Budapests in der Zwischenkriegszeit vor. Der bekannten Sozial- und Kulturpolitik des Roten Wien wird die „Notstandspolitk“ der Budapester Behörden gegenübergestellt, die aufgrund der autoritären Strömungen in Ungarn sich nicht so visionär und frei entwickeln konnte.

Den Abschluß des hier rezensierten Jahrbuchs bildet eine Quellendokumentation über die „Vienna Mission“ der Westalliierten im Juni 1945. Diese militärische Mission hatte die Aufgabe, die Lage in der von den Russen befreiten und besetzten Stadt zu untersuchen, um die spätere Verwaltung durch alle Alliierten regeln zu können. Die in der Dokumentation getroffene Auswahl orientiert sich an sozialgeschichtlichen Interessen und soll eine Grundlage zur Erforschung der Geschichte der Stadt Wien in der unmittelbaren Nachkriegszeit bilden.

Alle Aufsätze dieses Bandes beruhen auf fundierten Recherchen, materialreich werden die Thesen und Darstellungen untermauert und ausgeführt und auf der Höhe der modernen Geschichtsschreibung wird vor Augen geführt, wie vielfältig man sich der Geschichte einer Stadt nähern kann.

Susanne Böck