Schweizerisches Archiv für Volkskunde, Jg. 91, 1995 (2 Hefte)

1897 begann die Schweizerische Gesellschaft für Volkskunde damit, ein regelmäßiges Publikationsorgan herauszugeben. Das Ziel war, Aufgaben und Inhalte der damals neuen Wissenschaft Volkskunde einer interessierten Öffentlichkeit zu präsentieren. Als erster Herausgeber betätigte sich Eduard Hoffmann-Krayer (1864-1936), der in der Eröffnungsausgabe einen detaillierten volkskundlichen Kanon zusammenstellte, in dem er die Themen auflistete, die zu behandeln die selbstgestellte Aufgabe war. Die Zeitschrift, die damals - wie heute noch - den Titel Schweizerisches Archiv für Volkskunde trug, sollte in vierteljährigem Rhythmus erscheinen, der auf Dauer allerdings nicht eingehalten werden konnte. Wie selbstverständlich erschien das SAfVk in späterer Zeit in Form von jeweils zwei Doppelnummern. Das änderte sich erst 1993, als die Zeitschrift insgesamt eine Neugestaltung erfuhr. Der nunmehrige Herausgeber Ueli Gyr beschreibt aus diesem Anlal3 in einem Vorwort - knappe 100 Jahre nach Gründung - die aktuellen Ansprüche: Das SAfVk will ein Forum zur internationalen Diskussion von Volkskunde und Volkskundlichem sein, wobei Alltagskulturen und Lebenswelten im europäischen Kulturvergleich behandelt werden sollen. „Sie umfasst historische und gegenwartsbezogene Probleme ebenso wie Sachbereiche traditioneller oder moderner Art“ (89, 1993,1). Da immer wieder Ausgaben mit Schwerpunktthemen erscheinen, kann man sich auf den betreffenden Gebieten einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand verschaffen.

Das SAfVk ist eines der wichtigsten regelmäßig erscheinenden volkskundlichen Publikationsorgane im deutschsprachigen Raum. Aufgrund der Lage der Schweiz im Kreuzungspunkt dreier sprachnationaler Kulturen ist der Zeitschrift eine besondere Funktion als fachbezogene Vermittlungsinstanz überantwortet. Vor allem was das Französische anlangt, wird dieser Aufgabe ernsthaft nachgegangen, entsprechende Aufsätze werden sehr selbstverständlich aufgenommen und der Zeitschriftentitel wird zweisprachig geführt. Das Schwergewicht liegt aber doch deutlich auf der deutschen Sprache, was vor allem in der institutionellen Situation begründet liegt. Im hier eingehender zu besprechenden 91. Jahrgang der Zeitschrift etwa findet man nur einen französischsprachigen Text, nämlich Arnold Niederers Collectivisme et individualisme dans différentes régions européennes et le nouveau communautarisme (209-218). Der Aufsatz ist gleichzeitig der einzige des zweiten Heftes, der nicht auf einem Referat basiert, das auf dem zwischen dem 12. und 16. September 1994 in Wien zum Thema Ethnologia Europaea abgehaltenen 5. Internationalen Kongreß der Societe Internationale d Ethnologie et de Folklore (SIEF) vorgetragen worden ist. Insofern unterliegt dieses zweite Jahrgangsheft einer Schwerpunktsetzung, die hinsichtlich der getroffenen Auswahl die inhaltliche Vielfalt der auf dem Kongreß gehaltenen Referate gut widerspiegelt. Der Herausgeber hat sich die Mühe gemacht, aus dem umfangreichen, in zehn Sektionen gegliederten Programm Arbeiten auszuwählen, die die fundierten Kenntnisse der Referentinnen und Referenten zu ihren jeweiligen Themen erkennen lassen. Um so erfreulicher ist es, daß diese Referate beziehungsweise deren Bearbeitungen innerhalb des Faches gewürdigt werden, zumal die Tagung selbst nur durch den Abdruck von Abstracts beziehungsweise den Plenarvorträgen dokumentiert ist.

Anna-Maria Åström unterzieht den Fischermarkt von Helsinki einer genauen Analyse hinsichtlich der ihm zukommenden identitätsstiftenden Bedeutung für die schwedische Minderheit in Finnland (Der Fischermarkt von Helsingfors (Helsinki) als Identitätsmerkmal der Schweden in Finnland, 129-142). Entgegen dem zunehmenden Verlust seiner eigentlichen Funktion als Ort ökonomischer Distribution ist er für das Selbstverständnis der finnischen Schweden wichtig geworden. Der abgedruckte Text ist eine gute Übersetzung aus dem Schwedischen.

Im zweiten Aufsatz des Heftes analysiert die Betreuerin des Egerland Museums Marktredwitz, Elisabeth Fendl, die Situation der Egerländer Volkskunde um 1900 (143-162) und verfolgt die Fäden der Interessen, die zu einer Fundamentsetzung des Bewußtseins um ein eigenständiges Volkstum geführt haben.

Grundsätzliche Gedanken zum Fach, insbesondere zu dessen Funktion als Ethnologia Europaea macht sich Klaus Roth (Europäische Ethnologie und interkulturelle Kommunikation, 163-181). Er fordert vehement einen innereuropäischen Kulturvergleich ein und stellt damit ganz im Sinne des SlEF-Kongresses prinzipielle Fragen an das eigene Fach.

Bernhard Fuchs schließlich setzt sich mit dem Wesen der Zeitungskolportage in Wien auseinander (Wo das Geld auf der Straße liegt. Indische Zeitungskolporteure in Wien, 183-207). Das geschieht unter Berücksichtigung verschiedenster Perspektiven, ist in der Analyse sehr anschaulich und kann neben dem Aufsatz von Åström vor allem als Beispiel für die oben konstatierte intensive Auseinandersetzung mit einem konkreten Sachthema gewertet werden.

Das erste Halbjahresheft unterliegt keinerlei wie auch immer gearteter Schwerpunktsetzung. Der Herausgeber des SAfVk nimmt seine diesbezügliche Funktion zum Anlaß, neben eine Festschrift zum 65. Geburtstag Paul Huggers eine weitere Würdigung des ehemaligen Ordinarius für Volkskunde an der Universität Zürich zu stellen. Er beschreibt dessen wissenschaftliche Arbeit und präsentiert eine Bibliographie des Jubilars (Paul Hugger zum 65. Geburtstag. Mit einem Verzeichnis seiner Schriften 1958-1995, 33-52).

Im ersten Aufsatz des Jahrganges beschäftigt sich Ruth Fassbind-Eigenheer vor allem mit den frühen Aktivitäten der „Pestalozzigesellschaft in Zürich“ (Eine Institution im Dienste der Volksbildung - 1896 gegründet, 1-20). Sie beschreibt deren ursprünglich singuläre Intention, über den Aufbau eines Bibliotheksnetzes vor allem den unteren sozialen Schichten „gute“ Lektüre zukommen zu lassen, sowie die allmähliche Ausweitung des Programmes auf ein Freizeitangebot mit Vorträgen, Konzerten et cetera.

Freddy Raphaël analysiert die vor allem volkswirtschaftlich orientierte Sicht der deutschen Soziologen Max Weber (1864-1920), Werner Sombart (1863-1941) und Georg Simmel (1858-1918) auf die Juden. Er setzt sich dabei kritisch mit deren Einordnungs- und Charakterisierungsversuchen auseinander (Die Juden zwischen der Wüste und der Stadt. Vergleichende Lektüre von Max Weber, Werner Sombart und Georg Simmel, 21-32).

Helge Gerndt ist im selben Heft mit dem Beitrag Deutsche Volkskunde und Nationalsozialismus - was haben wir aus der Geschichte gelernt? vertreten (53-75). Seit Gerndt 1986 die für die Fachgeschichte sehr bedeutsame Tagung „Volkskunde und Nationalsozialismus“ ausgerichtet hat, verbindet man in der Volkskunde Autor und Thematik miteinander. Der nunmehr im SAfVk publizierte Aufsatz geht auf den Eröffnungsvortrag einer Tagung zurück, die am 18. und 19. November 1994 unter dem Titel Volkskunde und Brauchtumspflege im Nationalsozialismus in Salzburg stattgefunden hat. Fast wortgleich mahnt Gerndt die Wissenschaft zu Verantwortungsbewußtsein gegenüber historischen Prozessen und legt im Anschluß an den Aufsatz eine volkskundliche Bibliographie zum Thema Nationalsozialismus vor.

Von Klaus Guth enthält das Heft eine Arbeit zu regionalen Erscheinungen der Übergangsriten um Taufe und Begräbnis (Vom Umgang mit dem Leben. Bräuche im Umkreis von Geburt und Tod, 77-89). Hier wird der Versuch unternommen, einzelne im deutschsprachigen Raum registrierte Braucherscheinungen, die vor allem aus historischen Untersuchungen zusammengetragen und isoliert dargestellt sind, in einen Kontext mit dem gegenwärtig gepflegten Umgang mit dem Tod zu stellen. Das allein ist ein methodisch ungewöhnliches Unterfangen, dazu kommt aber noch, daß scheinbar willkürlich - wie um gerade interessiert Gelesenes zu verwerten - rahmenbildend in aller Kürze und punktuell Verhältnisse aus dem Mittelalter besprochen werden.

Schließlich wird man in diesem ersten Halbjahresheft noch mit einem Disput um die Ikonographie der Spielkarten konfrontiert, indem man unter Spielkarten, Volkskunst - ja, aber... (Kritische Anmerkungen zu einer neueren Darstellung von Nicolas Bouvier, 91-99) ein Lehrbeispiel der wissenschaftlichen Zurechtweisung vorgesetzt bekommt. Ihr Autor, Hans B. Kälin, zerpflückt einen relativ kurzen Text aus einem mit Volkskunst überschriebenen Band, der in einer zwölfbändigen Reihe, herausgegeben aus Anlaß der 700-Jahr-Feier der Schweiz 1991, erschienen ist. In allen Details und ohne jede Nachsicht werden da vom Rezensenten Fehlinterpretationen, Versäumnisse und Ungenauigkeiten aufgedeckt; und das nicht ohne nachdrücklich auf die eigenen Leistungen im Bereich der Erforschung der Spielkartengeschichte hinzuweisen.

Der 91. Jahrgang des SAfVk wird in beiden Heften durch Buchbesprechungen (101-126 u. 219-238) beziehungsweise insgesamt durch ein Verzeichnis eingesandter Schriften (239-244) abgeschlossen.

Insgesamt erscheint die Auswahl der Aufsätze wohlüberlegt. Sie läßt den Anspruch erkennen, ein Forum für die Präsentation volkskundlicher Forschungsergebnisse und offen für die Diskussion von Fachfragen zu sein. Überlegenswert scheint mir allerdings zu sein, ob nicht eine einheitliche Zitierweise angestrebt und - wichtiger noch - auf die Qualität verwendeter Fotografien größerer Wert gelegt werden sollte.

Christian Stadelmann

 

   

Schweizerisches Archiv für Volkskunde, Jg.92, 1996 (2 Hefte)

Der 92. Jahrgang der Zeitschrift versammelt auf 263 Seiten 11 Aufsätze in deutscher (9), italienischer (1) und französischer (1) Sprache sowie 45 Buchbesprechungen. Inhaltlich behandelt die Mehrzahl der Arbeiten Schweiz-spezifische Themen.

Die ersten beiden Aufsätze des Jahrganges sind historische Fallstudien aus dem Raum Basel. Albert Schnyder untersucht die Struktur zweier Lichtstuben, wie sie in Prozeßakten für die Jahre 1530 und 1622 belegt sind (Lichtstuben im alten Basel. Zu einer von Frauen geprägten Form frühneuzeitlicher Geselligkeit, 1-13). Er konstatiert für die sehr frühen Beispiele eine weitgehend ähnliche äußere Form und soziale Funktion. Anhand des Vergleichs mit den Lichtstuben des 18. und 19. Jahrhunderts, die mittlerweile einigermaßen gut untersucht sind, versucht Schnyder, den funktionalen Wandel dieser Einrichtungen zu erklären. Stefan Koslowski liefert einen Beitrag zum Vereinswesen des 19. Jahrhunderts (Bürgerturner und Theater. Zur Basler Theatergeschichte des 19. Jahrhunderts, 15-32). Konkret geht es um die Entfaltung einer dramatischen Kultur des Basler Bürgerturnvereines im 19. Jahrhundert. Er analysiert vor allem die über ein ursprüngliches Vereinsziel hinausgehenden Aktivitäten und die das eigene Tun gesellschaftlich legitimierenden Rechtfertigungsstrategien.

Rudolf Schenda erfährt anläßlich seines 65. Geburtstages eine von Ingrid Tomkowiak verfaßte eingehende Würdigung seiner volkskundlichen Leistungen (Lesestoffe und Kleine Leute. Rudolf Schenda zu seinem 65. Geburtstag am 13. Oktober 1995, 33-54). Die Autorin zeichnet den Jubilar vor allem ob seines aufklärerisch-emanzipatorischen Anspruchs aus und sich selbst durch eine genaue Kenntnis seiner Arbeiten. Eine Bibliographie, die das 1990 erschienene Schriftenverzeichnis Schendas (hgg. v. Ruth Geiser u. Erika Keller) bis 1996 erweitert, ergänzt den Beitrag. Als Autor ist Rudolf Schenda auch noch im zweiten Jahrgangsheft vertreten (Hinkende Botschaften? Zur Entwicklung und Bedeutung der schweizerischen Volkskalender, 161-181). Es geht ihm um die unterschiedlichen politischen beziehungsweise religiös-politischen Intentionen, welche die Herausgeber in den Kalendern verfolgt haben. Beschwingt und mit Worten spielend streicht der Autor die Bedeutung der Kalenderforschung hervor - eine, wie er betont, „aufschlußreiche Wissenschaft“, die es mit einem „wirklichen Massenmedium zu tun“ hat (175).

„Von den Flicken zu den Exempeln. Anmerkungen zum Bestreben des Menschen, nichts zu vergeuden“ (Dai rattoppi agli exempla: note sull´anelito dell´uomo a non sciupare, 55-61; Übersetzung: Veronika Plöckinger) ist der Titel eines Beitrags von Ottavio Lurati, in dem er sich mit den Diskrepanzen zwischen der althergebrachten Kultur des Reparierens und der gegenwärtigen „società dell´usa e getta“, der Wegwerfgesellschaft, auseinandersetzt. Den Autor interessieren weniger die geänderten ökonomischen Rahmenbedingungen als sekundäre kulturelle Erscheinungen, wie Techniken, die mit der verminderten Bedeutung des Flickens verloren gehen und sprachliche Wendungen, die ihren Sinn verlieren.

Eine qualitative Auswertung von Anstandsbüchern aus der Zeit um 1900 bekommen wir von Silke Götsch vorgelegt („Motto: Bleibt natürlich!“ Zur Vermittlung geschlechtsspezifischer Körpersprache in Anstandsbüchern, 63-78). Die Autorin durchleuchtet das Konzept für Geschlechterrollen, wie es für eine Industriegesellschaft geschaffen worden war und nunmehr als Handlungsanweisung für aufsteigende Bevölkerungsschichten über die weitverbreitete und auflagenstarke Ratgeberliteratur vermittelt wurde.

Der letzte Beitrag im ersten Heft ist eine profunde industriesoziologische Arbeit, die Firmenideologie als Herrschaftsinstrument thematisiert (79-105). Andreas Wittel unterzieht die Betriebszeitung eines mulitnationalen Konzerns einer Inhaltsanalyse hinsichtlich ihrer unternehmensideologischen Funktion. Der Aufsatz hat eine große analytische Qualität und ist spannend zu lesen - weil von einer sehr unmittelbaren Relevanz. Lediglich die hin und wieder eingewobenen Werturteile erscheinen entbehrlich.

Noch deutlicher wertend ist der Beitrag von Margaret Engeler über Mythos und Kommerz (Tendenzen im Umfeld der heutigen Appenzeller Volksmusik, 137-159), mit dem beginnend das zweite Heft des SAfVk den Jahrgang fortsetzt. Anhand der regionalen Volksmusikszene beschreibt die Autorin kompliziert verzahnte Identitäten mit dem Hintergrund von Traditionalismus, Kommerzialismus, regionalistisch orientierter Originalität und international inspirierter schöpferischer Kraft.

Zamfira Mihail stellt einen Text vor, der 1838 in Bukarest in französischer und rumänischer Sprache erschienen ist [Un projet de colonisation suisse dans les Pays Roumains (1838-1841)]. Es handelte sich um den Versuch des in Bukarest unterrichtenden Französischlehrers Henri Buvelot, die rumänischen Autoritäten von der Sinnhaftigkeit einer Ansiedlung von Schweizern in der Walachei zu überzeugen. Er begründete sein Ansinnen mit den tadellosen Charaktereigenschaften der Eidgenossen, ihrer landwirtschaftlichen Qualitäten, ihrer Bescheidenheit und Frömmigkeit. Als einzigen Nachteil nannte er das Republikanertum der Schweizer. Der Initiative des Lehrers war kein Erfolg beschieden.

Bereits im 91. Jahrgang des SAfVk gelangten sorgsam ausgewählte Vorträge, die auf dem 5. Kongreß der Société internationale d´ethnologie et de folklore 1994 in Wien gehalten wurden, zum Abdruck. Gottfried Korff schickt dieser Reihe seinen Kongreßbeitrag nach. Unter dem Titel Volkskunst: ein mythomoteur? (221-233) untersucht er die Volkskunst als „besonders wirkungsvolles Teilaggregat“ jener Kräfte, die im Dienste eines Konzeptes des Nationalstaates wirksam waren und sind. Er setzt damit die Genese und Nutzung der Volkskunst in den Rahmen jenes theoretischen Entwurfs, welcher die Idee der Nation als Voraussetzung für eine ethnische Gemeinschaft sieht und nicht umgekehrt. Ohne daß ein Zusammenhang zwischen diesem und dem Aufsatz von Waltraut Bellwald, der im selben Heft abgedruckt ist, intendiert wäre, konstruiere ich einen solchen (und das im Bewußtsein um die Problematik des Volkskunst-Begriffes). Bellwald untersucht nämlich ein Phänomen aus dem Bereich der Alltagsgraphik, das ein zutiefst und fast ausschließlich schweizerisches ist: das systematische Sammeln jener kleinen zumeist von einem Bild gezierten Aluminiumfolien, die zwölf Gramm Kaffeerahm (das ist Kaffeeobers, um nicht zu sagen Kaffeesahne) dicht unter Verschluß halten (Kaffeerahmdeckelisammeln oder die Faszination des Nutzlosen, 199-220). Die Autorin verschafft Nichteingeweihten Einblicke in eine Szene, die das vordergründig Sinnlose mit komplexer Ernsthaftigkeit betreibt und gibt wertvolle Hinweise auf das viel zu wenig erforschte Phänomen des Sammelns. Der bisweilen ins Journalistische gleitende Stil tut dabei wissenschaftlichen Ansprüchen durchaus genüge, hebt jedenfalls die Freude am Lesen.

Insgesamt weist der 92. Jahrgang des SafVk einen deutlich stärkeren Schweizbezug auf, als dies bei den Ausgaben zuvor der Fall war zuvor der Fall war. Angesichts der thematischen und auch methodischen Vielfalt, die sich im Ensemble der Aufsätzen zeigt, ist das kein Nachteil. Der Rezensionsteil ist wie gewohnt umfangreich ausgefallen - ein Umstand, der womöglich den dort verwendeten sehr kleinen Druck erklärt. Ein meines Erachtens erwähnenswertes Detail ist das einigermaßen konsequente Bemühen der Autorinnen und Autoren, bei Personenbenennungen (Berufs- und Funktionsbezeichnungen) eine Geschlechtsspezifikation vorzunehmen.

Christian Stadelmann

 

  

Schweizerisches Archiv für Volkskunde, Jg. 93, 1997, 264 Seiten, (2 Hefte)

Die erste Ausgabe des 93. Jahrganges feiert das Jubiläum der Gründung des Schweizerischen Archivs für Volkskunde vor 100 Jahren. Ueli Gyr, seit 1983 Herausgeber, leitet das Heft mit einer Positionierung der Zeitschrift in deren wissenschaftlichen Umfeld ein (100 Jahre Schweizerisches Archiv für Volkskunde). In der Folge wird durch den Wiederabdruck von Aufsätzen „an einzelne Namen von Schweizer Forschern“ erinnert, „deren Archivbeiträge national und international bedeutsam sind oder durch eigene Texturen anderer Art auffallen“ (3). Es handelt sich dabei durchwegs um Beiträge von Männern.

Den solcherart definierten Reigen eröffnet Eduard Hoffmann-Krayer. Sein Text (Individuelle Triebkräfte im Volksleben) schließt 1930 an die Diskussion an, die er zu Beginn des Jahrhunderts mit Adolf Strack geführt hat1 und exemplifiziert seine Thesen von der individuellen Gestaltung kultureller Äußerungen. Hoffmann-Krayer nimmt auch Bezug auf Hans Naumann, der zwischenzeitlich (1921/22) seine Theorie von „primitiver Gemeinschaftskultur und gesunkenem Kulturgut“ formuliert hatte, und verfeinert dessen Terminologie, indem er den Dualismus von Ober- und Unterschicht für das Modell auflöst und von „individuell stark differenzierte[n] und schwach differenzierte[n] Gruppen“ spricht (6).

Bei genealogischen Forschungen in Pfarregistern des 18. Jahrhunderts aus dem Waadtland ist Louis Junod auf ein interessantes Phänomen gestoßen: Ein bemerkenswert hoher Prozentsatz an Geburten ist weniger als neun Monaten nach der jeweiligen Hochzeit erfolgt, ohne daß die Eintragungen, wie sonst in solchen Fällen häufig, von verurteilenden Bemerkungen der Pastoren begleitet wären. Der Autor entwickelt 1946 aus dieser Entdeckung die Hypothese, daß in der untersuchten Gegend der Brauch herrschte, eine Verlobte erst zu heiraten, wenn es sicher war, daß sie Kinder bekommen konnte (Le Pays de Vaud a-t-il connu le „Kiltgang“? [Hat das Waadtland den „Kiltgang“ gekannt?]).

Karl Meuli trägt in einem Aufsatz, der 1946 erstveröffentlicht worden war, eine große Zahl an Belegen über Entstehung und Sinn der Trauersitten in traditioneller, heute altartig anmutender Manier zusammen. Die Beispiele dienen ihm dazu, seine These zu untermauern, daß den Trauersitten „überall der natürliche, spontane Ausdruck der Trauer zu Grunde“ liegt. „Die Sitte macht [diesen Ausdruck] absichtlich und künstlich nach, übersteigert ihn, trägt ihn dem Toten und der Gesellschaft mit Emphase vor und erhebt ihn zur Verpflichtung“ (38).

Ebenfalls in der Tradition der Brauchforschung steht der Aufsatz von Walter Heim (Die Wiederbelebung des Klausjagens in Küssnacht a. Rigi). Das Küssnachter Klausjagen ist in seiner herkömmlichen Form überkommen und wird gesellschaftlich mißbilligt; es ist in ein unkontrolliertes Lärmbrauchtum ausgeartet. In der Phase seines „Niedergangs“ ist es von traditionsbewußten Personen zum erhaltenswerten Kulturgut erklärt und organisiert wiederbelebt und gefördert worden. Zum Zeitpunkt des Entstehens des Aufsatzes (1958) präsentiert sich das Klausjagen als vielbeachteter Schaubrauch. Im Nachruf auf den Autor, der im zweiten Heft desselben Jahrganges abgedruckt ist (Mission und Volksfrömmigkeit. Zur Erinnerung an Walter Heim [1922-1996], mit Bibliographie), hebt Ueli Gyr diesen Aufsatz besonders hervor und attestiert Heim, daß er „den typischen Mutationsprozess durchschaut und Funktionen für Touristen und Einheimische ausgemacht“ habe, „[l]ange vor dem Beginn der Diskussion um Folklorisierung im Sinne des Folklorismus“ (204).

Bei Hans Trümpy ist die Wahl für einen Wiederabdruck auf dessen Habilitationsvortrag gefallen, der 1961 in der Zeitschrift veröffentlicht worden ist (Der Freiheitsbaum). Trümpy hat das sehr politische Phänomen der Freiheitsbäume in seiner Erscheinung in den USA, in Frankreich und in der Schweiz untersucht und sachkundig Einflüsse, Parallelen und Unterschiede beschrieben.

Von Richard Weiss ist eine Arbeit in die Jubiläumsnummer aufgenommen, die 1965 posthum abgedruckt worden ist und vom Autor selbst nicht mehr endgültig bearbeitet werden konnte. Weiss hat versucht, Grundzüge einer Protestantischen Volkskultur zu ergründen, und ist dabei vor allem der Frage nachgegangen, ob die reformierte Kirche angesichts ihrer nüchtern-rationalen, antitraditionalistischen Geisteshaltung überhaupt ein „brauchmäßig gebundenes Leben“ (73) zuläßt. Beispiele, die das Rationale „volkstümlich“ zurechtrücken, lassen Weiss die Frage positiv beantworten. Insgesamt sind seine Überlegungen davon bestimmt, daß sie zunächst konfessionell-kulturelle Vorgaben einer Region mit der Mentalität von deren Bewohnerinnen und Bewohnern gleichsetzen und Beispiele für die Einbeziehung einer transzendentalen und sinnlicheren Welt - repräsentiert durch den Katholizismus - suchen.

Vom Erzählforscher Max Lüthi ist dessen Antrittsvorlesung an der Universität Zürich abgedruckt (Das Bild des Menschen in der Volksliteratur). Einige Gattungen der Volkserzählung und -literatur (Sprichwort, Rätsel, Sage, Volksmärchen und Schwank) sind vom Doyen der schweizerischen Erzählforschung auf ihren Stellenwert in der Gegenwart (1968) hin analysiert worden.

Arnold Niederer macht Remarques sur „Le Peuple du Valais“ de Louis Courthion - Bemerkungen zu „Le Peuple du Valais“ von Louis Courthion -, einer Arbeit, die 1904 erschienen ist. Courthion hat damals das Wallis dergestalt untersucht, daß er von topographischen und klimatischen Gegebenheiten ausgegangen ist, und in der Folge beispielsweise von Anbaumethoden auf soziale Strukturen geschlossen hat. Seine Interpretation ist so weit gegangen, daß er gegen die geltende Forschungsmeinung die Rasse nicht als Ursache für, sondern als Konsequenz aus den Lebensbedingungen interpretiert hat.

Eine Reflexion Über Heimatkunde und schweizerische Heimatkunden im 19. Jahrhundert Eduard Strübins ist in die Jubiläumsnummer aufgenommen. Der Autor hat 1971 ein in Baselland durchgeführtes Projekt analysiert und den Anlaß dazu benützt, eine gesamtschweizerische Heimat- beziehungsweise Volkskunde zu fordern. Sein Wunsch ist mittlerweile erfüllt worden.

Wiederum mit der schriftlichen Fassung einer Antrittsvorlesung, nämlich der Paul Huggers, gehalten 1983 an der Universität Zürich, wird das Jubiläumsheft abgeschlossen. Mit Bruder Fritschi von Luzern versucht Hugger, der Geschichte einer berühmten Maskenfigur nachzugehen. In der guten Tradition der analytischen Brauchinterpretation erklärt er die Funktion der Gestalt im Rahmen der Fasnacht.

Aufgrund des Jubiläumsheftes beschränken sich neue Beiträge auf das zweite Heft. So sind im ganzen Jahrgang des Schweizerischen Archivs für Volkskunde nur zwei Aufsätze abgedruckt, die aktuelle Forschungsergebnisse präsentieren: Eva Hessler thematisiert auf Basis einer teilnehmenden Beobachtung Betriebsfeiern als Spiegel des Betriebsalltags? und Albrecht Tunger die Appenzeller Kuhreihen. Im einen Fall handelt es sich um die Analyse von Unternehmenskultur - um ein junges Forschungsfeld der Volkskunde also. Im Rahmen eines Projektes hat die Autorin hier aus zwei, wie sie bekennt, schwer miteinander vergleichbaren Weihnachtsfeiern eines Wirtschaftsunternehmens beziehungsweise der Abteilung eines solchen, deren Kommunikationsstrukturen, gesellschaftliche Bedeutung für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und Differenzierungsmerkmale zum Arbeitsalltag herausgeschält. Der zweite Beitrag ist eine akribische Zusammenstellung und Auswertung sämtlicher Quellen, die der Autor zum Appenzeller Kuhreihen, einer bereits im frühen 19. Jahrhundert abgekommenen Form von Hirtengesängen, gefunden hat. Diese Kuhreihen waren vor allem mündlich tradiert, Text und Noten erschlossen sich den danach forschenden Zeitgenossen nicht ohne weiteres. Tunger hat, soweit ihm dies möglich war, auch das Umfeld der Forscher recherchiert, - insgesamt eine Arbeit vorgelegt, die das Thema - soweit dies für den Laien, der der Rezensent auf diesem Gebiet ist, erkennbar wird - vorläufig abschließt.

Nachdem das Schweizerische Archiv für Volkskunde aus der Feierstimmung in den Jahresrhythmus zurückgekehrt ist, bietet das zweite Hefte neben den Berichten auch wieder Platz für Buchbesprechungen - es sind immerhin noch 31.

Christian Stadelmann