| Österreichische Zeitschrift für Volkskunde, Jg. 100, 1997, 4
Hefte, 606 Seiten
Die Österreichische Zeitschrift für Volkskunde (ÖZV) erschien (unter dem Titel Zeitschrift für Österreichische Volkskunde) das erste Mal im Jahre 1896 als Organ des Vereins für österreichische Volkskunde in Wien, welcher sich am 20. Dezember des Jahres 1894 konstituierte und neben der Zeitschrift auch das Projekt der Errichtung eines Museums (Eröffnung am 31. 1. 1897) vorantrieb, mit welchem Verein und Zeitschrift bis heute untrennbar verbunden sind. Die ersten Mitglieder des Vereines rekrutierten sich hauptsächlich aus dem Beamtenapparat des k. u. k. Staatsgebildes (vgl. Proponentenliste des Aufrufs zum Eintritt in den Verein für österreichische Volkskunde, Jg. 1, 24). Damit und durch das Gründungsdatum war die politische Intention hinter dieser vergleichbaren Institutionen in ganz Europa nacheifernden Aktion bereits vorgegeben: Die wissenschaftliche Erforschung der „volksthümlichen, urwüchsigen Grundlage“ der Bevölkerung der Doppelmonarchie, um das Bild einer im Grunde homogenen „Völkerfamilie“ dem wachsenden und für den Staat in seiner Existenz zunehmend bedrohlicher werdenden Selbstbewußtsein der einzelnen sich ihrerseits in einem Völkerkerker wähnenden Nationalitäten gegenüberzustellen. Daß er zu diesem Behufe bereits etwas verspätet antritt, argwöhnt auch der hier wohl nicht weiter vorzustellende Michael Haberlandt, der in seinen den ersten Jahrgang einleitenden Ausführungen (denen die obigen Zitate entstammen) betont, daß sich der Verein in seiner Arbeit die „volle Unbefangenheit in nationalen Dingen strengstens zur Richtschnur nehmen wird. Wäre ein derartiges Organ schon länger in Österreich wirksam gewesen, - vielleicht wäre manches anders in unserm Vaterlande“ (Jg. 1, 1896, 1). Konsequenterweise wurde bei dieser Arbeit die komparative Methode in den Vordergrund gestellt, ein Umstand, der diese frühe Phase der österreichischen Volkskunde (verglichen mit manch späterer) zuweilen als durchaus modern erscheinen läßt. Den sich wandelnden Erscheinungsbildern (und Befindlichkeiten) des Staates Österreich folgend, wurde aus der Zeitschrift für Österreichische Volkskunde nach dem Zerfall Österreich-Ungarns zunächst die Wiener Zeitschrift für Volkskunde (1919-1944), nach dem Zweiten Weltkrieg erschien schließlich in neuer Serie (seit 1947) die Österreichische Zeitschrift für Volkskunde. Die einzelnen Hefte erschienen dabei neun- (1895-1897), sechs- (1898-1918), vier- (1919-1944), zwei- (1947-1956) und seit 1957 wiederum viermal pro Jahr. Beachtenswert ist in diesem Zusammenhang auch der Umstand, daß der Verein für Österreichische Volkskunde (und mit ihm sein Organ) von Anfang an nicht nur auf die engere Fachöffentlichkeit abzielte. So boten die frühen Ausgaben der Zeitschrift unter der Rubrik „Vereinsnachrichten“ in einer „Sprechsaal“ betitelten Abteilung Raum für Anfragen und Antworten der interessierten Bevölkerung. Daneben gab es die für entsprechende Periodika üblichen Rubriken, die „Abhandlungen“, „Kleinere Mitteilungen“, „Ethnographische Chronik aus Österreich“ und Literaturbesprechungen zum Inhalt haben und welche die Leserschaft in den vierteljährlich erscheinenden Ausgaben der ÖZV in ähnlicher Form auch bis heute findet. Inhaltlich schwankte die Zeitschrift zwischen internationaler Orientierung und kleinräumiger Heimatkunde, wobei in jüngerer Zeit das Pendel in die erstere und damit begrüßenswerte Richtung auszuschlagen scheint. Redaktionell betreut wird die ÖZV übrigens gegenwärtig von Klaus Beitl und Franz Grieshofer. Daß diese in dieser Funktion bloß drei Vorgänger haben - Michael und Arthur Haberlandt, Leopold Schmidt - spricht zumindest im personellen Bereich für eine erstaunliche Kontinuität der Zeitschrift, deren Geschichte, wie angedeutet, auch als eine wechselvolle gesehen werden kann. Der 100. Band der Gesamtserie (NS 51) eröffnet mit einem Aufsatz von Herman Roodenburg (Zwischen „Volksgeist“ und „Volksaufklärung“. Über Volkskunde und nationale Identität in den Niederlanden [1800 - 1850]). Er analysiert, ausgehend von „Seitenblicken“ auf die Korrespondenz zwischen Jacob Grimm, August Hoffmann von Fallersleben und dem niederländischen Dichter Willem Bilderdijk, die von Animositäten gespickte Beziehung zwischen den Niederlanden und Deutschland, wobei er drei wesentliche Unterschiede in der Einschätzung von Sprache, Volk und Vergangenheit entdeckt. Eine niederländische Volkskunde habe sich, so der Autor, mangels eines ausgeprägten „Kontinuitätsgedankens“ (H. 1, 32f), was ein rückwärtsgerichtetes Streben nach „ursprünglichem Volksgut“ nicht notwendig erscheinen ließ, nicht im Sinne der Heidelberger Romantik entwickelt, wobei die unterschiedliche Staatswerdung hierfür die Ausgangsbasis abgab. Einen Blick über den einstmals Eisernen Vorhang erlaubt Zuzana Benušová mit ihrem Aufsatz über die Wechselbeziehungen zwischen kirchlichen und säkularisierten Bräuchen in der Slowakei in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts am Beispiel der Familienrituale (H. 2). Der Artikel ist eine knappe Zusammenfassung der Dissertation der Autorin, in der sie sich mit der Ritualkultur während und nach dem kommunistischen Regime in unserem momentan fernsten Nachbarland beschäftigt. Sie zeigt darin, wie die von den in Widerstreit liegenden Institutionen Kirche und Staat (in diesem speziellen Fall vertreten durch die „Körperschaften für zivile Angelegenheiten“) mit mehr oder weniger Nachdruck angebotenen Brauchformen in der Praxis parallel genutzt wurden. Die Ausführungen sind vor allem vor dem Hintergrund der seit den 1960er Jahren fortschreitenden „Entinstitutionalisierung“ und der damit einhergehenden Suche nach neuen Formen spannend. Zurück nach Österreich führen die nächsten drei vorzustellenden Arbeiten. Reinhard Johler (Warum haben Österreicher keinen Bedarf an Nationalhelden? Hiesige Anmerkungen zu „Les héros nationaux: construction et déconstruction“, H. 2) nähert sich auf der Suche nach Heroischem in österreichischen Gefilden von mehreren, zum Teil sehr unterschiedlichen Seiten her. Er deutet an, wie hierzulande Helden gemacht und in der Folge dekonstruiert werden und wirft Streiflichter auf die österreichische Befindlichkeit. Die Frage, ob der konstatierte mangelhafte Konsens über vorbehaltlos zu akzeptierende Nationalhelden nun positiv oder negativ zu bewerten ist, läßt der Autor freilich unbeantwortet. Die durch den EU-Beitritt Österreichs herbeigeführte Annäherung an Deutschland und die damit verbundenen Assimilierungsängste sowie die Strategien zu ihrer Überwindung sind Ausgangspunkt für die Überlegungen Klara Löfflers (Zum Beispiel Erdäpfelsalat. Variationen zum Thema Nationalisierung, H. 1). Auch sie stellt die Frage, worauf das nationale Selbstverständnis Österreichs gegründet ist und berichtet über einige Institutionalisierungsversuche bezüglich des „typisch Österreichischen“, wobei sie ihr Hauptaugenmerk auf das dem Menschen Nächste, nämlich seinen Teller richtet. Wichtig ist ihre Feststellung, daß auch zur Elite des Landes Zählende, welche hier von Robert Menasse und H. C. Artmann vertreten werden (zu nennen wären viele andere, auch wesentlich drastischere Beispiele), vor Unsicherheiten nicht gefeit sind und sich in der Balance „zwischen Bekennermut und ironischer Distanz“ (52) üben. In den engeren Bereich der Heimatkunde führt der Beitrag von Leopold Kretzenbacher (Neufunde spätmittelalterlicher Fresken vom „Mahnbild“-Typus „Feiertags-Christus“ in Kärnten. Im Gedenken an Oskar Moser, geboren am 20. Jänner 1914 zu Sachsenburg in Kärnten, gestorben am 28. Oktober 1996 in Graz, H. 2), dem zu seinem 85. Geburtstag das vierte Heft des vorliegenden Jahrgangs der ÖZV zugeeignet ist. Der Autor, der (neben Konrad Köstlin) auch als ständiger Mitarbeiter der ÖZV fungiert, gedenkt seines Fachkollegen und Freundes mit einer Arbeit, die eine Ergänzung zu einem Artikel ist, den der Verstorbene zu diesem Aspekt der sakralen Volkskunst verfaßt hat, als deren Doyen man den nunmehr als Emeritus wirkenden Leopold Kretzenbacher zu bezeichnen hat (vgl. GS 93, NS 44, 106-111). Unter Mahnbildern vom Typ des Feiertags-Christus sind Darstellungen zu verstehen, die meist einen von Werkzeugen und landwirtschaftlichem Gerät umgebenen, geschundenen Christus zeigen, deren Aufgabe die Mahnung zur Einhaltung der Sonn- beziehungsweise Feiertagsruhe war. Von einer gänzlich anderen Seite nähert sich Bernd Rieken (Freizeit, Zeitmangel und Mechanisierung, H. 3) dem Thema von Arbeitszeit und Freizeit. Er erzählt mit ausgewogener Schwerpunktsetzung die Geschichte der fortschreitenden Mechanisierung in allen Bereichen des menschlichen Lebens, welche eben jenes zum Teil grundlegend verändert hat. Reizvoll wäre es, diese mit der Geschichte der Wissenschaft Volkskunde zu verbinden, deren Rolle es schließlich auch oft ist, „der Beschleunigung der Zeit entgegenzuwirken“ (350). Martin Scharfe (Schlangenhaut am Wege. Über einige Gründe unseres Vergnügens an musealen Objekten, H. 3) schließlich vermag mit launigem, profundem Räsonieren diesmal über einen grundlegenden Aspekt wissenschaftlichen Arbeitens zu interessieren. Der Autor geht vom Drei-Welten-Modell Poppers aus. Dieser unterschied eine Welt 1 der physischen Erscheinungen, eine Welt 2 der subjektiven Gedanken und eine Welt 3 „der objektiven Resultate des menschlichen Denkens und Tuns“ (304f). Mit der Produktion letzterer beschäftigt sich Scharfe, wobei er drei Charakteristika dieses Schöpfungsprozesses ausmacht: die Entfremdung des Autors von seinem Werk, die Verfügbarkeit des Werks und die Lust am Loswerden desselben. Diese drei können nun auch „allegorisch fürs Museum gelesen werden“ (313). Dieser Gedanke wiederum gründet auf der Feststellung, daß unsere Museen Altarstätten des Fortschritts seien, auf denen das am Weg Zurückgelassene geopfert oder besser, deponiert wird. In diesem Zusammenhang ist an einen früher formulierten Denkanstoß Scharfes zu erinnern, in dem er empfahl, „die technische Groteske als Prinzip im technischen Museum zur Darstellung zu bringen“ (vgl. GS 99, NS 50, 1996, 1-17, hier 13). Mit den Abhandlungen aus dem vierten Heft des Jahrganges schließt sich der Kreis zu den eingangs gemachten Ausführungen. Die im November 1996 abgehaltene Ausstellung „Galizien in Bildern aus dem ‘Kronprinzenwerk’“ in Lemberg (L’viv) war Anlaß für ein Symposion unter dem Titel „Ethnographie ohne Grenzen. Die Anfänge der vollkskundlichen Sammlung und Forschung in den Karpatenländern in ihrem zeitgenössischen Kontext und ihre Bedeutung für heute”. Das vorliegende Heft liefert nun die dazu verfaßten österreichischen Beiträge. Klaus Beitl betont in seinem Geleitwort (Lemberg - Wien und zurück. Die persönlichen und institutionellen Beziehungen zwischen der ukrainischen und österreichischen Volkskunde auf dem Gebiet der regionalen Ethnographie im damaligen Kronland Galizien, H. 4) die Bedeutung des von Kronprinz Rudolf angeregten, aus 24 Bänden bestehenden Monumentalwerks „Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild“, von denen einer auch dem Kronland Galizien gewidmet war, für die Frühzeit der österreichischen Volkskunde. Im Anhang findet sich unter anderem die gesamte Korrespondenz Michael Haberlandts mit seiner galizischen Kontaktperson Ivan Franko. Margot Schindler (Die Ethnographie des Kronlandes Galizien in der österreichischen volkskundlichen Fachpublizistik. Beiträge und Rezeption. Eine kommentierte Bibliographie, H. 4), Franz Grieshofer (Galizien in der Photothek des Österreichischen Museums für Volkskunde, H. 4) und Barbara Tobler (Die Galiziensammlung des Österreichischen Museums für Volkskunde, H. 4) berichten in der Folge über die galizischen Spuren in den Beständen des Österreichischen Museums für Volkskunde, während Felix Schneeweis’ Beitrag (Adolf Mais. Die Ostabteilung des Österreichischen Museums für Volkskunde, das Ethnographische Museum Schloß Kittsee und deren Beziehungen zum ehemaligen Kronland Galizien, H. 4) einen knappen Einblick in das Werden der seit 1974 bestehenden Außenstelle des Österreichischen Museums für Volkskunde erlaubt. Zu wünschen bleibt lediglich, daß auch die nichtösterreichischen Tagungsbeiträge ihren Weg in die ÖZV finden mögen. Zusammenfassend läßt sich konstatieren, daß sich die ÖZV mit dem vorliegenden Band als ein traditionsverbundenes Periodikum präsentiert, in dem durch internationale Autorinnen und Autoren Blicke über den Zaun ermöglicht werden, in dem heimische Autorinnen und Autoren pointierte Gedanken formulieren und welches auch noch Platz für Heimatkunde der alten Schule bietet. Lobenswerterweise wurde in diesem 100. Band der Gesamtserie den Abhandlungen erstmals eine deutsche Zusammenfassung vor- und eine englische hintangestellt. Es bleibt zu hoffen, daß diese Vorgangsweise beibehalten wird, da sie sowohl die aus- als auch die inländische Rezeption der Beiträge erleichtern dürfte. Herbert Bammer
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