| kuckuck. notizen zur alltagskultur und volkskunde, 11. Jg. 1996 (2
Hefte)
Und so soll er sein, „unser Kuckuck”: Alltagskultur - erkundet auf den Pfaden von Wirklichkeiten (und ihrer doppelbödigen Böden), auf den Wegen von Einstellungen, Meinungen und Gefühlen - so weit gefaßt, daß selbst die Wissenschaft zum Alltag als Forschungsfeld werden kann, daß sich der Forscher zum Betroffenen machen kann und muß, so weit gefaßt, daß Forschungsergebnisse transparent werden, daß Alltagskultur nicht Interpretament einer vom Alltag losgelösten Wissenschaft bleiben muß. (Katschnig-Fasch, Ausgabe 1/86, S.3) Diese 1985 von Assistentinnen und Assistenten des Grazer Instituts für Volkskunde gegründete Zeitschrift setzte sich also zum Ziel, ein Diskussionsforum für kulturwissenschaftliche Fragestellungen in Hinblick auf Alltagskultur in ihren unterschiedlichen Ausprägungen zu bieten. Die erste Ausgabe erschien ein Jahr später. Personen aus dem universitären Umfeld waren und sind ebenso wie Laien und Künstler eingeladen, sich am Diskurs zu beteiligen. Der Kreativität sind dabei inhaltlich und formal keine Grenzen gesetzt. Aufsätze, Texte in Dialogform, Gedichte, bildliches Material wie Fotos und Zeichnungen können passend zum Thema der folgenden Zeitschriften an die Redaktion (Institut für Volkskunde der Universität Graz) geschickt werden. Eine von Meixner Wolfgang durchgeführte Analyse der veröffentlichten Beiträge zeigt, daß sich vor allem Studentinnen und Studenten, Universitätsassistentinnen und -assistenten sowie Universitätsprofessorinnen und Universitätsprofessoren aus dem In- und Ausland zu Wort melden. Der Anteil der männlichen Autoren liegt dabei etwas höher als der weiblichen - genauer gesagt 121 Männer veröffentlichten gegenüber 90 Frauen (Ausgabe 2/96). Leider findet die durch die Beiträge angeregte Diskussion in den Zeitschriften selbst keinen Widerhall. Mit „krise und aufbruch” und „blatten”, den zwei bisher erschienen Sonderheften, wurde versucht, diese Lücke zu schließen. Diese beiden Ausgaben boten ausdrücklich ein Forum für Diskussion und für die Darstellung von Forschungsprojekten und ähnlichem. Mit der 2. Ausgabe (1986) entschloß sich die Redaktion, die halbjährlich erscheinende Zeitschrift unter ein bestimmtes Motto zu stellen. Die Themenwahl ist dabei stark von dem aktuell stattfindenden wissenschaftlichen Diskurs abhängig und kann als Reaktion auf soziale, gesellschaftliche und politische Geschehnisse angesehen werden. Bisher sind die Zeitschriften zum Thema „kulturkontakte/kulturkonflikte”, „zeitzeichen”, „körperkulturen”, „erinnern und vergessen”, „gefühle”, „gross und klein”, „volksfrömmigkeit”, „ fetisch”, „abenteuer”, „arm und reich”, „utopie”, „fremd”, „gewalt”, „geheimnis”, „spiele”, „metropolis”, „hören sehen”, „universal regional”, „ritual”, „begehren” und „mythen” erschienen. Auf die Zeitschriften mit dem Titel „ritual” und „begehren” (Jahrgang 1996) werde ich später noch näher eingehen. Die äußere Erscheinung der Zeitschrift hat sich seit ihrer Entstehung nicht wesentlich verändert: Ein Heft in DinA4 Format mit unterschiedlich gefärbten Kartoneinbänden je Jahrgang, immer ungefähr 60 Seiten stark. Seit 1996 zeigt die Zeitschrift ein neues Layout und präsentiert sich damit „visuell entschlackt” wie es Helga Klösch-Melliwa im Editorial ausdrückt (Ausgabe 1/96, S.3). Der Preis einer Ausgabe, dieser 600 Auflagen starken Zeitschrift, liegt derzeit bei ÖS 60,- (Ausgabe 2/96). Die erste Ausgabe im Jahr 1986 kostete noch halb so viel. Überlegungen zum Thema sowie ein kurze Vorstellung der folgenden Aufsätze und deren Autorinnen und Autoren finden sich im Editorial und geben Anhaltspunkte für das bevorstehende Lesevergnügen.Genauere Angaben über Forschungsschwerpunkte und wissenschaftliche Tätigkeiten der jeweiligen Autorinnen und Autoren finden sich am Ende des Bandes. Aufgelockert wird die Zeitschrift durch die, den Beiträgen zugeordneten, Zeichnungen und Fotos, deren genaue Betrachtung sich durchaus lohnt. Die Behandlung des Themas „Begehren” (Ausgabe 1/96) stand unter dem Blickwinkel von Wunsch(traum), Lust, Freude, Macht und Ohnmacht und bezog sich bis auf eine Ausnahme (die sich mit dem Begehren nach Schokolade auseinandersetzte) auf zwischenmenschliche Beziehungen. Bemerkenswert finde ich, daß sich zu diesem Thema überwiegend Autorinnen zu Wort meldeten, als wäre „Begehren” eine rein weibliche Angelegenheit. Entspricht dies dem verbreiteten Vorurteil, daß das Gefühlsmäßige vor allem dem weiblichen Geschlecht zuzuordnen sei? Lediglich der Volkskundler Utz Jeggle wagt sich mit seinem Beitrag „Der wahre Kuss” an das Thema heran. Utz Jeggle bietet einen Einblick in die verschiedenen Kußstrategien als Spiegel von Zeit und Moral. Aus negativen Erfahrungen lernend (ein Beitrag über das Küssen im Zuge einer Odol Ausstellung im Jahr 1993 fand sich in gekürzter und verkürzter Form in Tageszeitungen wieder), versucht er, im Gegensatz zu den Autorinnen, die Wahl des Themas gegenüber Dritte zu rechtfertigen. Im Text der Germanistin Ingrid Spörk wird der Komplexität und Mehrdeutigkeit des Begriffs Begehrens in Hinblick auf unterschiedliche „Liebesdiskurse” nachgegangen. In dem Beitrag von Gieske Sabine (Kulturwissenschaftlerin und Germanistin) werden Schönheit und die Macht der Begierde unter dem Blickwinkel des sich wandelnden Geschlechterverhältnisses untersucht. Daß Werbung Folien zu Wünschen und Begierden bietet, zeigt Klara Löffler (Kulturwissenschaftlerin) in ihrer Analyse von Werbetexten. Am Beispiel der „Hysterie”, im Sinn des Begehrens als vermeintliches Krankheitsbild bei Frauen, beschäftigt sich Maren Lorenz (Historikerin, Politikwissenschaftlerin und Psychologin) anhand von Krankenberichten aus dem 18. Jahrhundert mit dem Umgang des allzu öffentlichen Begehrens der Frauen. Katja Wegner ortet in ihrem Artikel „Die Sucht nach dem Opfer und dessen Sehnsucht nach dem Täter” die Anziehungskraft des Vampirs als Sinnbild für eine nie zu stillende „sexuelle” Begierde, die im Alltagsleben nicht auslebbar scheint. Das Begehren von Schokolade und der Genuß des Verzehrs derselben steht im Mittelpunkt der kulturwissenschaftlichen Betrachtung der „Folkloristinnen” Regina Bendix und Janet Theophano. Im letzten Beitrag analysiert Sabine Kienitz (Kulturwissenschaftlerin und Germanistin) Gewalt und Begehren in Hinblick auf die kulturelle Konstruktion der Geschlechterbeziehung in den letzten beiden Jahrhunderten und zieht dabei als Grundlage Schilderungen von Vergewaltigungsopfern heran. Daß die Beiträge tatsächlich nicht immer die Form eines koventionellen Artikel haben müssen, zeigen die Beträge der Kulturwissenschaftlerinnen Kirsten Salein und Ute Bechdorfer. Kirstin Salein präsentiert einen Dialog zwischen einem Wanderer und seinem Schatten während Ute Bechdorfer als Ausdrucksmittel die Interpretationen zweier Liebesgedichte wählt. Die Ausgabe des zweiten Heftes dieses Jahrganges trägt den Titel „schmerz” (Ausgabe 2/96). Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Phänomen „Schmerz” erfolgt aus unterschiedlichen Blickrichtungen und Fachdisziplinen (Geschichte, Soziologie, Ethnologie, Volkskunde, Philosophie, Medizin und Bildhauerei usw.). Der Anteil der Autorinnen und Autoren ist hier ausgewogen. Der erste Beitrag von Elisabeth List beschäftigt sich mit Schmerz als Selbsterfahrung und als Instrument der Welterrichtung im Sinn von politischen, gesellschaftlichen und individuellen Gewaltausübungen. Walburga Haas schreibt in dem Artikel „Das tut weh!” über die Individualität der Schmerzerfahrung, die Schwierigkeit erlebten Schmerz zu vermitteln und über den Umgang mit Schmerz im alltäglichen Leben. Über den Trennungsschmerz von türkischen EinwandererInnen in Deutschland und den Umgang mit diesem schreibt Dursun Tan. Anhand des Begriffspaares „Süß und bitter” (dies ist auch der Titel des Aufsatzes) versucht der Autor zu Beginn des Artikels Befindlichkeiten (Tagesverfassungen, Leid, Mitleid, Dankbarkeit,...) darzustellen. „Zapping and talking. Marginalien zum ´öffentlichen´ Schmerz” heißt der Beitrag von Helga Klösch-Melliwa und Roberta Schaller-Steidl. Hier wird Schmerz als Ausdruck von Empfindungen und Befindlichkeiten in Zusammenhang mit Talkshows diskutiert. Daß Weltschmerz eine „gewinnbringende” Form der Depression sein kann, wird von Walter Reithoffer unter dem Titel: „Welt-Schmerz spart Lebens-Freude. Zur Kunst der Depression” humorvoll dargestellt. Paul Watzlawicks Buch „Anleitungen zum Unglücklichsein” dürfte allerdings Pate gestanden haben. Hitzler Ronalds Beitrag „Sklavenspiele. Zur Ordnungspolitik in algophilen Milieus” bietet Einblicke in die inneren Strukturen eines sadomasochistisch orientierten Milieus. Schmerzempfindung als ein kulturell gebundenes Phänomen wird von Michael Knipper in Hinblick auf Beobachtungen im medizinischen Alltag untersucht. In Anschluß daran schreibt Silvia Leal Carretero über Mord und Totschlag und den damit verbundenen Schmerzerfahrungen der Huichol-Indianer. Die Künstlerin Susanne Baumhakel setzte sich mit diesem Thema bildhauerisch (Projekt „schädel”) und malerisch auseinander. Die Ausgabe schließt mit einem Beitrag von Wolfgang Meixner, der in einer eher statistischen Bilanz dem zehnjährigen Bestehen des „kuckuck” gedenkt. Die Stärke des „kuckuck” liegt für mich in der Überraschung, deren Ursache in der Vielfältigkeit der Betrachtungen eines Themas zu finden ist. Dies weckt einerseits Lust zum Lesen und bietet anderseits die Möglichkeit, über das eigene, manchmal eingeschränkte wissenschaftliche Denken hinaus zu blicken. Daß Alltagskultur tatsächlich kein Interpretament einer vom Alltag losgelösten Wissenschaft ist und sein darf, wird einem beim Lesen dieser Zeitschrift bestätigt. Ein Blick in diese Hefte ist daher auf alle Fälle lohnend und empfehlenswert. Manuela Friedl
kuckuck. Notizen zur Alltagskultur und Volkskunde, Jg. 12, 1997, 2 Hefte, 92, Seiten Der zwölfte Jahrgang des kuckuck aus Graz präsentiert - diesmal eingeschlagen in Blitzblau - notizen zu alltagskultur und volkskunde zum Thema Mythen in der ersten und zu Geschwindigkeit in der zweiten Nummer. Das erste Heft einleitend, befaßt sich Johannes Moser mit dem Begriff Mythos, bringt eine kleine Begriffsgeschichte, zusammengetragen aus Philosophie, Ethnologie, Anthropologie und Religionswissenschaften - jenen Wissenschaften, die sich bislang am intensivsten mit Mythen auseinandersetzten. Moser spricht Roland Barthes und seinem Verständnis von Mythos den größten Einfluß auf die Kulturwissenschaften zu; alle Aufsätze im Themenheft sieht er in jenem Rahmen, den Roland Barthes mit „Mythen des Alltags“ vorgezeichnet hat. Trotzdem fallen die Beiträge sehr vielfältig aus: diverse Bedeutungen und Bedeutungsebenen von Mythen werden angesprochen - es geht um Personen, Orte, Politik und Ursprungsgeschichten; unterschiedliche Aspekte der Auseinandersetzung mit dem Begriff und dem Phänomen werden in den Beiträgen herausgestrichen. Die Autorinnen und Autoren kommen aus verschiedenen Disziplinen, heterogen sind sie nicht nur bezüglich ihrer Schwerpunkte, sondern auch hinsichtlich ihres „Ranges“ innerhalb der scientific community - Studentinnen/Studenten und Dissertantinnen/Dissertanten, Lektorinnen/Lektoren, Habilitierte und Leute, die außerhalb oder am Rande des Wissenschaftsbetriebes stehen - sie alle „dürfen“ dieses Podium nutzen. In einem knappen, persönlich gehaltenen Essay stellt Hans-Jürgen Heinrichs, freier Schriftsteller und wissenschaftlicher Publizist, Betrachtungen zum Mythos als „inneres Ausland“ an. Er plädiert dafür, Entsprechungen des Allgemeinen/“der Fremdaussagen“ (4) in sich selbst zu suchen, sich mit den unbewußten Mythen zu konfrontieren. Über den Mythos der politischen Vernunft schreibt Ulrich A. Müller aus Kassel. Anhand der Ausführungen mehrerer Philosophen zum Thema - Hegel, Marx, Spinoza, Hobbes und Kant -, untersucht er, wie ein Mythos seine Wirkung im Diskurs des Politischen entfaltet. Indem etwa Politik als Garant dafür gilt, die eigenen Verhältnisse selbst regulieren zu können, nimmt die Idee des Politischen mythologische Züge an. Schließlich kommt Müller zur Psychoanalyse und zu Freud, der fragt, ob nicht jene Voraussetzungen auf denen staatliche Einrichtungen beruhen, Illusionen seien. Mit Hannah Arendts Abhandlung zum „Mayflower Contract“, bringt Müller ein letztes Beispiel, um seine Überlegungen zum Paradoxon politischer Selbstbestimmung zu veranschaulichen. Die pompöse 600-Jahr-Feier der Schlacht um den Kosovo nimmt Karl Kaser, Professor für südosteuropäische Geschichte in Graz, zum Anlaß, sich mit der Macht von Mythen auf dem Balkan zu befassen. Die Schlacht auf dem Amselfeld zwischen Osmanen und Serben endete 1389 mit dem Tod beider Feldherren und mit einer Niederlage Serbiens; Kaser versucht zu klären, wie dieses Ereignis, von den historischen Fakten her eher von geringem Erinnerungswert, zu einem zentralen serbischen Mythos werden konnte und das erwähnte Jubiläum 1989 zur Zelebration serbischen Nationalbewußtseins. In Anlehnung an Pierre Bourdieu setzt Kaser Mythos mit „historischem Kapital“ gleich und erläutert die Umstände, unter denen Geschichte sakralisiert und schließlich zelebriert werden kann. Wesentlich scheinen ihm zyklische Zeitvorstellung und genealogische Erinnerung als vorherrschendes historisches Gedächtnis. Die Geschichte ist demnach Gegenwart, und der Mythos lebt: „gepflegte“ Heldenlieder oder die Überreste des serbischen Despoten Lazar, die heute noch zu besichtigen sind, und der Konflikt zwischen Albanien und Serbien tragen zur ständigen Aktualisierbarkeit bei. Unklar bleibt leider der Begriff „Balkan“. Die Hamburger Kulturwissenschaftlerin Barbara Lang zeigt am Beispiel des Berliner Stadtteils Kreuzberg, wie ein moderner Mythos entsteht, tradiert und von verschiedenen Gruppen für die jeweiligen Interessen eingesetzt wird. Unter neuen Bedingungen, geänderten Konstellationen, muß ein Mythos verändert werden, eventuell - wie im Fall Berlin Kreuzberg - in das Gegenteil verkehrt. Der Mythos aber existiert weiter, im Vorher/Nachher und anderen bipolaren Beschreibungen (Kreuzberg: aus Schmuddel wird Schick, aus Nische Zentrum, wo ehedem die Aussteiger waren, haben nun die Einsteiger ihr Refugium und so weiter), und er hat wichtige Funktionen für die gesellschaftliche Verarbeitung gegenwärtiger Veränderungsprozesse. Anita Niegelhell schloß ihr Volkskundestudium mit einer Arbeit zum Liebesbild in Partnerschaftsratgebern ab, die Basis für den vorliegenden Artikel ist. Liebe, stellt die Autorin fest, ist nicht frei von Mythen - auch in Ratgeberliteratur, obwohl sie dort thematisiert und manchmal aufgebrochen werden. In den folgenden beiden Artikeln geht es um orale Traditionen indianischer Kulturen. Bei Sabine Lang steht die geschlechtliche Ambivalenz in religiösen Ursprungsgeschichten im Mittelpunkt. Multiple Geschöpfe (zum Beispiel Mannfrauen und Fraumänner) vereinen Männliches und Weibliches; der institutionalisierte Geschlechterrollenwechsel spielt bei mehreren Kulturen als Vermittler zwischen den Geschlechtern eine wichtige Rolle. Lang spricht nicht von Mythen, weil dabei eine gewisse Abwertung mitschwinge, sondern verwendet lieber Termini wie Story, Geschichte, orale Tradition oder Überlieferung. Elke Mader, auch sie ist Ethnologin, stellt Reflexionen zu mythischen Erzählungen und Alltagswelt an. Sie vergleicht zwei mythische Traditionen der Gegenwart - jene der Shuar aus dem Amazonasgebiet Ecuadors und die Geschichten des Hollywood-Kinos. Beide sind lebendiger Bestandteil der jeweiligen Alltagskultur, sie weisen Parallelen in Bezug auf Inhalt und Rezeption auf. Mader wirbt für eine Mythenanalyse der Kinohits im ethnologischen Sinn - denn wie Mythen exotischer Völker reflektieren und tradieren Spielfilme das Ideen- und Wertsystem einer Gesellschaft. Auch Felix Hellweg beschäftigt sich mit einem Mythos der Gegenwart und setzt sich mit dem Phänomen Elvis zwischen Markt und Mythos auseinander. Er verquickt einen Abriß der Karriere des Stars, der Elvis-Restlverwertung und der Elvis-Neukreationen nach dessen Tod mit der Theorie der Kulturindustrie und referiert diese von Walter Benjamin bis Theodor Adorno. Elsbeth Wallnöfer präsentiert wiederum Ergebnisse ihrer Diplomarbeit. Die Beschäftigung mit der Frage nach der Dekonstruktion des Mythos Dorftrottel beginnt mit einer Genealogie des Mythos Trottel. An deren Anfang stehen phänotypologische Zuschreibungen durch Mediziner im 19. Jahrhundert; weitergeführt wird die Genealogie in Beschreibungen regionalspezifischer Topoi der volkskundlichen Landschaftseroberer. Aus Beschreibungen werden Vorschreibungen - das fixe Bild des Kretins, des Trottels bildet sich heraus, er ist schließlich nur noch sprechunfähig, im Gang watschelnd und mit wenig Verstand ausgestattet wahrnehmbar. Das Bild setzt sich fort, geht bis zu Selbstzuschreibungen - etwa im Zuge der Fremdenverkehrswerbung, mit ihren (gast-)freundlich lächelnden Trotteln vom Land - und der Verwendung des Trottels in zeitgenössischer Literatur, wo er als personifizierte Metapher für alle Ausgegrenzten herhalten muß. Die weitreichende Wirkung der konstruierten Bilder läßt sich bis heute nachweisen - trotz der Veränderung realer Hintergründe. Der Salzburger „ausübende Gelegenheitsschreiber“ Xaver F. Schwanthaler schließlich gewährt in ewig flunkert der mythos einen Einblick in ein Interview mit Herrn Doktor Müller, geführt bei Franzosenwein. Müller berichtet über seine Jugend im Nationalsozialismus - geprägt vom nazistischen Lehrer, dem HJ-Führer und Karl Heinrich Waggerl. Richard Wolfram kommt auch vor. Die Informationen zu den Autorinnen und Autoren auf den letzten zwei Seiten sind hilfreich beim Lesen und „Einordnen“ der Texte; einige Abbildungen (diesmal überwiegend Zeichnungen von Karl Rössing) lockern die dicht bedruckten A 4-Seiten auf. Beim Durchblättern des zweiten kuckuck-Heftes zogen zuallererst die Abbildungen meine Aufmerksamkeit auf sich. Flyers, die Techno-Veranstaltungen, Clubbings und ähnliches ankündigten, illustrieren die Texte zum Thema Geschwindigkeit. Die Flugzettel werden im Editorial als „ideale Zeitdokumente einer flüchtigen und ‘schnellen’ alltagskulturellen Ästhetik“ (3) vorgestellt; trotz aufwendiger Bildgestaltung, dem manchmal gar hochprofessionellen Design, hätten sie, so Helga Klösch-Melliwa, keinen „Anspruch auf künstlerische Imagination oder Repräsentation“ (3). Dies scheint mir ein seltsamer Umgang mit dem Medium zu sein; überdies erfolgt die Reproduktion ohne jeglichen Hinweis auf die Herkunft, die Gestalterinnen oder Gestalter et cetera. Die Herausgeberinnen und Herausgeber, wird einleitenden erklärt, erwarteten zum Thema Geschwindigkeit vor allem Beschäftigung mit technologischer Beschleunigung. Diese Erwartung wurde nicht enttäuscht. Die Autorinnen und Autoren lieferten meist Gedanken zum „Zeitalter der neuen Geschwindigkeit“ - wie Jakob Tanner, Sozial- und Wirtschaftshistoriker an der Universität Zürich, zu Beschleunigungserfahrung und Suchtprobleme[n] in der modernen Gesellschaft mit dem zentralen Anliegen, daß Liberalisierung der Drogenpolitik eine wichtige Voraussetzung bilde, um die negativen Auswirkungen des Beschleunigungsdrucks aufzufangen, dem die Gesellschaft ausgesetzt sei. Um Das Tempo der Realität ist auch dem Grazer Archivar Walther Reithoffer zu tun, die Geschwindigkeit der Emotionen in einer Gesellschaft richte sich nach der Technologie der verbreitetsten Fortbewegungsmittel, sagt er. Weiters geht es in den Aufsätzen um Synchronisation und das „Verschwinden“ des Raums (unter anderen bei Andrea Gnam), Information, Kommunikation und Virtualität sowie die damit verbundenen neuen Technologien. Stefan Beck aus Tübingen zum Beispiel reflektiert gängige Analysen der „Informationsgesellschaft“ und betrachtet kritisch deren Fragestellungen und Probleme; schließlich entwickelt er aus dem erstellten Befund Perspektiven für kulturwissenschaftliche Fächer. Das Heft ist fast ein bißchen langweilig geraten; allzu eng aufgefaßt scheint das Themenspektrum, und allzu homogen wirken Zugangsweisen und Assoziationen. Auffallend auch, daß Geschwindigkeit nahezu ausschließlich als Schnelligkeit vorkommt. Andreas Bauer, Kulturwissenschaftler und Journalist aus Deutschland, berichtet von der „Autobahnfront“. Die Autobahn interpretiert er als Manifest der herrschenden Kultur, des kulturellen Postulats von Dynamik und Fortschritt. Autos werden, zitiert Bauer einen deutschen Politiker, wie Waffen gebraucht, solange die Zeichen auf Vollgas stehen, bleibt die Autobahn eine Art „Schlachtfeld der Kentauren“ (24). Unter dem Titel Tempo, Tempo spricht Martin Scharfe zehn Aspekte des Themas an - „eilig“, wie er selbst empfindet. Schnellsein und wenig Zeit haben sind Kennzeichen der Moderne, mit Hans Blumenberg überlegt Scharfe, ob wir nicht in einer vorletzten Zeit leben, wenn Tempo, Hetze und Zeitmangel gemäß den Visionen des Apostels Johannes eine letzte Zeit prägten. Von den einzelnen Aspekten wird einer - Wecken, Wachen, Warnen (im Sinne von nichts Versäumen) - ausführlicher behandelt, die übrigen - Zirkulation (ständige Bewegung durch den Raum), Vernichtung des Raumes, Schwindel (Gefühle wie etwa Geschwindigkeitsrausch), Wollust (zum Beispiel bei schneller Fahrt, die einen zugleich Eros und Todestrieb nahebringe), Töten (Geschwindigkeit und Aggression - wieder das Autobeispiel), Apokalyptische Reiter (nochmals das Automobil/nun historisch), Flucht, Der perfekte Mensch (von Menschen selbstgemacht) und schließlich Omnipotenz (alles läuft auf die Selbstermächtigung des Menschen hinaus) - diese Aspekte des Themas Geschwindigkeit behandelt Martin Scharfe stichwortartig und kündigt genauere und materialreiche Ausführung an. Die Wiener Historikerin und Germanistin Eva Blimlinger verbindet einen fiktiven Tagesablauf einer amerikanischen Polizistin mitsamt deren, von hoher Geschwindigkeit geprägten, Eßgewohnheiten mit Auszügen aus mehreren Koch- und Haushaltsbüchern. Die Passagen aus den Ratgebern befassen sich ebenfalls mit den Mahlzeiten im Lauf des Tages - das Tempo muß ein völlig anderes sein. Blimlingers Satire Über das schnelle Essen, ist der einzige Text im Heft, in dem es explizit auch um langsame Geschwindigkeit geht. Der Schlußpunkt zum Themenheft wird mittels Wiedergabe eines „spontanen“ E-Mail-Dialogs zwischen Martin Wirbel und Johannes Moser gesetzt. Das virtuelle Gespräch wurde in Reaktion auf Gedanken Wirbels, die von Beschleunigung und Kommunikation über individuelle Hyperrealitäten hin zu Cybersex reichen, geführt. Nikola Langreiter
|