| kea. Zeitschrift für Kulturwissenschaften. H. 1-8, 1990-1995;
Sonderband I: Ethnologie und Literatur, 1995. Sonderband II: Krieg und
Frieden: ethnologische Perspektiven, 1995
Das broschierte Einzelheft der Zeitschrift kostet DM 25,-, im Abonnement DM 18,- und ist unter folgender Adresse zu beziehen: Redaktion kea; keaedition; Lortzingerstr. 1e, D-28209 Bremen. Die Zeitschrift kea entstand in der Folge einer Tagung des Instituts für soziale und kulturelle Arbeit (ISKA), die im Mai 1990 im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg unter dem Thema „Zur Relevanz des Fremden in unserer Kultur“ abgehalten wurde. Der Tagungsband dazu ist die erste Nummer von kea. Der Kea ist übrigens ein Vogel in den Alpen Neuseelands, der sehr neugierig und interessiert an allem Fremden ist. Die Fachtagung war interdisziplinär angelegt und dies ist auch der Anspruch der Zeitschrift:
Bisher erschienen Bände unter folgenden Themen: Der verkehrte Blick, Kulturschock, Writing Culture, Hexerei, Kinderwelten, Geschlechterkonstruktionen, und als Band 8, Stadtdschungel. Die Herausgeber von Band 8 gehen davon aus, daß aus Inhalten und Methoden der Stadtethnologie wesentliche Impulse für die Kulturwissenschaften ausgehen werden, weil die Stadt sozusagen der verdichtete Zustand einer kleiner gewordenen Welt ist, in der „Transnationale Konzerne, kapitalistisches Wirtschaften, Wohlstandsgefälle, ökologische Katastrophen, wirtschaftliche Krisen, Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus, Kriege und damit einhergehende Migrations- und Fluchtbewegungen, und nicht zuletzt Mickey Mouse, Mick Jagger, Madonna und Michael Jackson“ (kea 8, Il) alle betreffen. Der Band „Stadtdschungel“ versteht sich nicht als Überblick über die Forschungslage zu „Stadt“ sondern möchte vor allem Anregung durch Vielfalt bieten: „Ethnologische, sozial- und kulturhistorische, literaturwissenschaftliche und sozial-geographische Bemühungen stehen hier friedlich nebeneinander.“ (kea 8, III) Stark angelehnt an die Einleitung von „Stadtdschungel“ von Peter J. Bräunlein und Andrea Lauser wird der Inhalt des Heftes beschrieben: Kathrin Wildner führt unter dem Titel „‚Picturing the City’. Themen und Methoden der Stadtethnologie“ in die Stadtethnologie ein, wie sie sich vor allem aus der amerikanischen „urban anthropology“ entwickelt hat. Sie informiert über die Geschichte der urbanen Ethnologie, die unterschiedlichen Blickrichtungen auf das Objekt „Stadt“ und skizziert neuere methodische Ansätze der Forschung. Beatrice Bloch prüft die Möglichkeiten und Grenzen der Methode des „mental mapping“ - „Eignen sich Mental Maps zur Erforschung des Stadtraumes?“ Sie berichtet aus ihren Erfahrungen mit einem Forschungsprojekt im Großraum Frankfurt, verweist dabei auf interpretatorische Probleme und zeigt Chancen, in Mental Maps sowohl Stadt-ldee als auch Stadt-Erfahrung zu erschließen. Barbara Lang schildert die Entstehung und Tradierung des Mythos Kreuzberg, der in der Irritation der lokalen Identität im Gefolge der Wende 1989 scharf konturiert wird. („Kreuzberg ist nicht mehr Kreuzberg“. Zur „symbolischen Gentrifizierung“ des Stadtteils Berlin-Kreuzberg). Monika R. Rulfs stellt ethnologische Betrachtungen über die Ampel an: „Rot-Gelb-Grün - Sekundenphasen der Ordnung.“ Das primär urbane Ordnungsinstrument Ampel wird im Kontext symbolischer Zuschreibung und sozialer Praxis untersucht. Dieter Haller zeigt anhand seiner Feldforschung über Machismo und Homosexualität in Sevilla/Andalusien die Defizite der Forschungsansätze zur Identität im (städtischen) Raum. Mit seinem Begriff „Forschungsintersubjekt“ erweitert er das analytische Instrumentarium und rückt die Dynamik zwischen Raum, Interaktion, Identität und Zeit in den Mittelpunkt. „Singapurs ‚drei Welten’ - eine historische Skizze der Vergnügungsparks im Stadtstaat“ untersucht Jürgen Rudolph. Der Blick auf die besonderen Formen der Freizeit und des Vergnügens eröffnet die Wahrnehmung von bedeutsamen Dimensionen urbaner Kultur und kulturellen Handelns, die aus rein politischer oder ökonomischer Perspektive unsichtbar bleiben. Arnd Schneider geht der bis jetzt identitätsstrukturierenden Migrationserfahrung von Einwanderern am Beispiel von Buenos Aires auf den Grund: „Moderne, Urbanität und Masseneinwanderung an der Peripherie: Das Beispiel Buenos Aires.“ Drei Themen sind dabei wichtig, die Schiffsreise als Metapher der Moderne, Raumerfahrung und Fortschrittsideologie in der Metropole sowie Nostalgie nach der Vergangenheit der „modernen Zeiten“. Hafenstädte, so stellt Henk Driessen fest, waren bislang keine bevorzugten Orte ethnologischer Forschung. Nicht Ordnung, Geschlossenheit und Beständigkeit kennzeichnen diese Städte, sondern Durch- und Übergänge, Flüchtiges, schwer Faßliches dominieren. Am Beispiel Tanger zeigt er, wie historische und literarische Zuschreibungen Wahrnehmungen strukturieren und Stadt-Repräsentation schaffen („Transitional Tangier. Some Notes on Passage and Representation”). Peter Braun betrachtet Leonore Maus und Hubert Fichtes unvollendete Erforschung der afroamerikanischen Kultur in New York („In der schwarzen Stadt. Leonore Mau und Hubert Fichte erkunden das New York der Afroamerikaner“). Der Autor zeichnet den spezifischen Blick von Photographin und Autor - als Bilddiskurs, in erhaltenen Materialien und Vorstudien, als lyrischen Entwurf - nach und skizziert den Wandel dieses Erkundungsvorganges. Der mittelalterliche Diskurs über die Stadt und das Leben in der Stadt ist das Thema von Peter Schuster („Dschungel aus Stein? Der mittelalterliche Diskurs über die Stadt zwischen Ideal und Wirklichkeit“). Im Mittelalter standen Stadtverherrlichung und Stadtkritik im Urteil der Gelehrten und Kleriker nebeneinander. Die Bemühungen um Rechtssicherheit im städtischen Raum ließen allerdings die Bewohner ihre Städte eher als Stätte des Friedens sehen denn als Wildnis. Der Dschungel begann vor den Stadttoren. Peter J. Bräunlein rekonstruiert die Herausbildung städtischer Identität im frühindustriellen Nürnberg („‚Sag mir Einer, welche Stadt, Beßre Schildhalter hat ...?’ Gedächtniskultur und städtische Identität im frühindustriellen Nürnberg“). Bedingt durch den Einbruch der Moderne und der daraus folgenden Wandlung der Stadt im 19. Jahrhundert wird das Bemühen um die Konstruktion kollektiver städtischer Identität verstärkt. In Nürnberg waren es Fremdwahrnehmungen, literarische Erfindungen der Frühromantiker, aus denen sich die Selbstwahrnehmung konstituierte. Dieser Aneignungs- und Lernprozeß verlief im wesentlichen über eine „Kultur des Erinnerns“. Impressionen aus dem Leben der „multikulturellen“ Stadt Luxemburg, ergänzt durch Anmerkungen zur luxemburgischen Identität vermittelt Alex Dietrichs Artikel „In Babylon leben ... Momentaufnahmen aus einer ‚multikulturellen’ Stadt“. Im Gegensatz zu anderen europäischen Städten ist hier das politisch geforderte und geförderte und tagtäglich gelebte Miteinander von drei offiziellen Sprachen, Einübung zumindest von Akzeptanz von Andersartigkeit und Vielfalt. Wie in jedem kea-Heft gibt es auch zu „Stadtdschungel“ einen ausführlichen themenorientierten Rezensionsteil. Die Zeitschrift kea ist meiner Ansicht nach die interessanteste kulturwissenschaftliche Zeitschrift im deutschen Sprachraum. Forschungsberichte, auch aus dem unsicheren Zwischenstadium regen an. Auseinandersetzungen mit Theorien erfreuen - so gibt es ein ganzes Heft zu „Writing Culture“. Der ausführliche Rezensionsteil zu jedem Thema lädt zum Weiterlesen ein. Besonders faszinierend für Kulturwissenschaftler und Kulturwissenschaftlerinnen, also auch Volkskundler und Volkskundlerinnen, ist der eingelöste Anspruch auf Interdisziplinarität, das Überschreiten von Fachgrenzen, denn:
Gertrud Benedikt
kea. Zeitschrift für Kulturwissenschaften, H. 9: Tod, 1996. 251 Seiten, Doppelnummer 28,- DM. Das Thema des vorliegenden Bandes von kea ist der Tod. Seit Ariès „Geschichte des Todes“ besteht unter Psychologen, Soziologinnen, Geistlichen, Ärzten und Kulturwissenschafterinnen Übereinstimmung darüber, daß der Tod in der Moderne individuell, sozial und gesellschaftlich ausgegrenzt werde, daß es also keinen angemessenen Umgang mit dem Tod in unserer Gesellschaft gebe. Dies ist die Basis dafür, eine „Humanisierung des Sterbens“ einzufordern, einen bewußteren Umgang mit dem Tod - so auch von Peter J. Bräunlein und Andrea Lauser im Vorwort. Die Praxis zu dieser wissenschaftlichen Meinung heißt dann Sterbebegleitung oder Sterbeseminar, bei denen versucht wird, den Tod ins Leben hereinzuholen und handhabbar zu machen. Ich versuche kurz zu zeigen, daß ich nach der Lektüre des Sammelbandes diesen Zugang in Frage stelle. Dabei werden nicht alle Beiträge besprochen; ich arbeite exemplarisch einen Gedankengang heraus, zu dem mich alle Artikeln anregten. Ausgangspunkt dafür ist der Beitrag von Thomas Rolf „`Ist mein Tod möglich?` Zur Thanatologie Jean-Paul Sartres“. Klar, stringent und mit Genuß zu lesen sind die Ausführungen und Verdeutlichungen zu Sartres „Mein Tod“ „Mein Tod“ ist demnach logisch nicht möglich, weil er nicht subjektiv erfahrbar ist, von niemanden; das heißt auch, niemand kann mir über seinen eigenen Tod erzählen, darüber kann schlicht und einfach niemand etwas wissen. „`Der Tod ist kein Ereignis des Lebens. Den Tod erlebt man nicht`“. Mein Tod ist nur für andere erlebbar. Soweit Sartre. Genau dies scheint mir aber der Pumkt zu sein: Weil der Tod eben nicht Teil des Lebens ist, ist er tatsächlich jenes Ganz Andere, das unerfahrbare und unausdrückbare Andere. Damit ist der konkrete Tod eines Menschen immer zu früh, immer unerwartet - weil er eben das Schrecknis ist, das das Leben auslöscht. Ein Schrecknis ist nicht normal und grundlos, damit gibt es auch den gewöhnlichen und normalen Tod nicht. Das Wissen darum gibt es in traditionellen Kulturen, wie Rolf-Michael Lüking in seinem Beitrag „Kein Tod ohne Grund“ beschreibt. Ausgehend von ethnographischer Literatur, in der behauptet wird, daß in traditionellen Weltauffassungen der normale Tod unmöglich scheint, zeigt er, daß es sehr wohl ein Bewußtsein über den Grund eines Todesfalles gäbe - eine Krankheit zum Beispiel, die jemanden dahinrafft; weit interessanter sei es aber für die Menschen in traditionellen Gesellschaften, danach zu fragen was dahinterstünde, die Ursache der Erkrankung zu ergründen. Dies ist nicht beschränkt auf traditionelle Gesellschaften, in modernen Gesellschaften steht allerdings die Begründung des Todes mit den Mitteln der Naturwissenschaften im Vordergrund. Die Frage nach den Ursachen wird trotzdem immer wieder gestellt, so zum Beispiel in Thornton Wilders 1927 erschienen Roman „Die Brücke von San Luis Rey“. Ausgangspunkt ist hier ein Brückeneinsturz, bei der eine Gruppe von Menschen ums Leben kommt. Das Buch handelt vom Versuch eines Paters, der Ursache dieses Unglücksfalles mit der Rekonstruktion der Leben der verunglückten Menschen auf die Spur zu kommen und damit dem Wirken der Vorsehung. Die Ursache des Lebens und des Todes in der traditionellen Abendländischen Kultur ist letztendlich Gott, letztendlich und tröstlich - wenn jemand dies als Wahrheit akzeptieren kann. Ist das nicht so - und dies ist heute der Normalfall - gibt es keinen Trost. Die Frage danach, was die Ursache und der Sinn des Todes seien, wird immer wieder gestellt und wenn man der Logik (und Sartre) folgt, gibt es darauf keine Antwort. Daß Unverstehbarkeit des Todes im konkreten Umgang damit Schwierigkeiten bereitet, zeigt der sehr sorgsame Beitrag von Lilo Roost Vischer: „Alltägliche Leichen. Anmerkungen zu einer ethnologischen Forschung in einem schweizerischen Bestattungsinstitut und Krematorium“. Die Mitarbeiter in einem Bestattungsunternehmen begegnen dem Unbehagen, den die Leiche auslöst mit notwendigen Distanzierungsmaßnahmen: „Sie entpersonifizieren die Verstorbenen, sargen möglichst schnell ein und schützen sich mit ausgeprägten `hygienischen` Maßnahmen vor dem toten Körper.“ (215) Ich meine, daß dies ein angemessener Umgang mit dem Tod ist. Als Kulturwissenschaftler wissen wir, daß das Andere Angst macht; bei jenem äußerst Anderen - dem Tod - ist die Angst denn auch äußerst groß - dazu fällt mir Lovcraft ein, der immer vom „unvorstellbaren“ oder „namenlosen Grauen“ spricht - und dies, meine ich, wäre die angemessene Haltung dem Tod gegenüber, das unvorstellbare Grauen des Ganz Anderen zumindest zu spüren und nicht wegzuhumanisieren. Der Tod ist nicht ins Leben integierbar, er ist die Andere Seite, die wir als Lebende nie sehen werden. Da hilft auch kein tibetanisches Totenbuch und keine Sterbesakramente - nichts; gar nichts was im Noch-Leben passiert, ist dem Tod angemessen, meinem Tod. Das ist, was wir nicht wahrhaben wollen. Der Tod der Anderen wird durch Rituale erträglicher - vielleicht. Die Frage, ob nicht unsere Gesellschaft sehr angemessen mit dem Tod umgeht sollte gestellt werden - zumindest in dem Sinne was der Umgang mit dem Tod über eine bestimmte Gesellschaft aussagt. Umgekehrt ist zu fragen, ob nicht auch traditionelle Weltsichten am Umgang mit dem Tod ganz einfach scheitern. Ist nicht eine neue Qualität in der Moderne im Umgang mit dem Tod dazugekommen, nämlich die Möglichkeit eines bewußten Umgangs damit, jenseits von Ritualen? Dies ist es, was ich an der Zeitschrift kea so schätze: Sie ist immer anregend. Grund dafür sind Autorinnen, die aus verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen kommen und sich mit einem bestimmten Thema beschäftigen. So ist in diesem Fall die Anregung, die Position der derzeitigen kulturwissenschaftlichen Praxis in Hinblick auf „Tod“ zu überdenken und zu stürzen vom Beitrag eines Philosophen ausgeganen. Hier ist Interdisziplinarität kein Lippenbekenntnis, das Überschreiten der Fachgrenzen ist Programm und Abenteuer. Gertrud Benedikt
kea. Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Ausgabe 10, Ethnologie der Migration, 1997, 245 Seiten Die Autorinnen und Autoren des vorliegenden zehnten kea-Bandes setzen sich mit dem Thema „Migration“ unter ethnologischem Blickwinkel auseinander. Inhaltlich wird ein weiter Bogen gespannt: Ein Überblick über die ethnologische Migrationsforschung, türkische Arbeitsmigranten, asylsuchende afghanische Familien in der deutschen Provinz, ein irregulär beschäftigter polnischer Wanderarbeiter in Berlin, die verbliebenen Deutschsprachigen im deutschböhmischen Niemandsland, philippinische Hausmädchen in Istanbul, der „Asian Food Store“ als Treffpunkt von Filipinas in einer deutschen Großstadt, der Zusammenhang zwischen Migration und Religion im Hochland von Ecuador, Turkanafrauen in Lodwar/Nordkorea, Migration und Matrilinearität bei den Minangkabau. Allen Artikeln gemeinsam ist das Bemühen um eine sorgfältige theoriegeleitete und auch fundiert empirische Arbeitsweise. Herauszuheben ist die ausgezeichnete Standortbestimmung des Themas „Ethnologie der Migration“, mit denen die Herausgeberinnen und Herausgeber und Autorinnen und Autoren des ersten Artikels befaßt sind (Peter J. Bräunlein, Andrea Lauser: Grenzüberschreitungen, Identitäten. Zu einer Ethnologie der Migration in der Spätmoderne). Näher eingehen möchte ich auf den Aufsatz von Gabrielle Cappai: Raum und Migration. Formen und Funktionen der Reproduktion des heimatlichen Raumes am Beispiel einer sardischen Community. Cappais Grundlagen sind folgende: Konflikte in der Begegnung unterschiedlicher Kulturen gründen nicht nur auf unterschiedliche Norm- und Wertvorstellungen. Der in der individuellen Sozialisation erlernte Umgang mit dem sozialen Raum und der sozialen Zeit ist von zentraler Bedeutung, um Probleme zu verstehen, die sich infolge der Migration ergeben: „Denn Migration heißt in vielen Fällen unter anderem auch dies: Begegnung, Auseinandersetzung, Konflikt und Kompromiß mit Formen von Raum- und Zeitstrukturierung, die anders sind, als die im Ursprungsland erlernten“ (30). Um Anpassungsprobleme von Auswandererinnen und Auswanderern zu verstehen, ist es daher notwendig, auch jene Wirklichkeit, in der diese Menschen sozialisiert worden sind, zu untersuchen. Gabrielle Cappai zeigt dies am Beispiel von sardischen ruralen Auswandererinnen und Auswanderern, die sich in einer deutschen Großstadt ein Clublokal gestaltet haben. Der Treffpunkt verweist nicht nur symbolisch auf den ursprünglichen heimatlichen Raum, sondern ermöglicht auch die Ausübung spezifischer sozialer Funktionen, die vom heimatlichen Dorf herkommen. Eine dieser Funktionen ist der Austausch von Informationen, die der Vergewisserung der gemeinsamen Werte und Haltungen dienen. Im Dorf sind die Orte, wo die Informationen kursieren, geschlechts- und altersspezifisch differenziert. Sie werden alltäglich betreten. Um informiert zu sein, genügt es, sich an einen bestimmten Ort zu begeben, das heißt, die normalen Alltagsverrichtungen zu erledigen; damit ist man am Austausch von Neuigkeiten und an Diskussionen beteiligt. Es ist nicht notwendig, Treffen zu organisieren, oder eine genaue Zeit auszumachen. Die Aufteilung des Clublokals entspricht der Aufteilung nach Geschlechtern: Männer unter sich halten sich an der Bar und an einem Spieltisch auf. Frauen haben im Lokal keinen eigenen Platz, schaffen sich aber einen sozusagen fluktuierenden „Gesprächsraum“. Bezüglich des Austausches von Information ist die alters- und geschlechtsgemäße Differenzierung im Club aufgehoben. Aufgaben, die im Herkunftsland meist auf dem Weg des informellen Gesprächs erledigt werden, werden in der neuen Aufnahmegesellschaft ebenso behandelt, nämlich im Gespräch im Club. Dabei geht es vor allem um Arbeit und Arbeitsplätze, den Umgang mit der Bürokratie sowie um Schulen und Ausbildungsmöglichkeiten für die Kinder. Unterschiedlich ist auch der Umgang mit der Zeit: Auswandererinnen und Auswanderer, die aus ländlichen Strukturen kommen, sind es nicht gewohnt, die Zeit als knappes Gut zu betrachten: „Es besteht im Dorf also kaum die Notwendigkeit, rational, das heißt zeitökonomisch, mit bestimmten affektiven Bedürfnissen (Bestärkung verwandtschaftlicher Bindungen) umzugehen, die von sich aus sowieso dazu neigen, sich der Zeitplanung zu entziehen“ (39). In der deutschen Großstadt ist die Fähigkeit, die Zeit zu planen, wichtig, um andere Menschen zu treffen, um vom gesellschaftlichen Leben nicht ausgeschlossen zu sein. Bekannte spontan zu treffen, ist nicht mehr möglich. Die Notwendigkeit der Zeitstrukturierung wird deshalb als Freiheitsverlust empfunden: Dort, wo es den im Dorf Sozialisierten wenigstens zeitweise gelingt, „unstrukturierte“ Zeit zu reaktualisieren, dort haben sie ein Stück Freiheit wiedergewonnen. Anregend - wie immer bei kea - weiterzudenken: die Unterscheidung zwischen dem Umgang mit Zeit und Raum von Migrantinnen und Migranten und Bewohnerinnen und Bewohnern des Gastlandes scheint mir in weiten Teilen jene zwischen einer ländlichen und einer städtischen Kultur zu sein. Interessant wäre, sich auch die „inländischen“ Unterschiede im Umgang mit Zeit und Raum anzuschauen und vor diesem Hintergrund die wohlbekannten Konflikte und Klagen von Städtern, die aufs Land ziehen und Leuten, die vom Land in die Stadt ziehen, zu erforschen. Weiterzudenken wäre auch die Frage, ob es nicht ganz allgemein Lebensqualität bedeutet, über einen Ort und unstrukturierte Zeit zu verfügen, um Beziehungen zu pflegen. Solche Orte sind nicht nur in ländlichen Kulturen zu finden, sondern auch in den Städten: Das Gasthaus, das regelmäßig besucht wird, das Kaffeehaus, in dem man zu bestimmten Zeiten sitzt, die Bäckerei, die zum Treffpunkt für junge Mütter wird. Wieder einmal frage ich mich, warum Stadtplanerinnen und -planer nicht auf die Arbeit der Kulturwissenschaften zurückgreifen und warum Kulturwissenschafterinnen und Kulturwissenschafter den Schritt in die praktische Umsetzung ihrer Forschungen verweigern. kea ist damit lesenswert wie immer und bietet selbst für Spezialistinnen und Spezialisten Anregung und neue Literatur. Ein Einzelheft der Zeitschrift kostet 28 D-Mark, das Abonnement 23 D-Mark. Gertrud Benedikt
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