Beiträge zur historischen Sozialkunde, 26. Jg. 1996, H. 1

Der 26. Jahrgang der „Beiträge“ setzt in gewohnter Zuverlässigkeit seine Bemühungen fort, zur Allgemeingültigkeit geronnene Geschichtsbilder durch aktuelle Forschungsergebnisse zu ergänzen und gegebenenfalls zu korrigieren. Das inhaltliche Spektrum der vier 1996er Hefte reicht grobgefaßt von der Mediävistik (Heft 3) über Geschichtsvermittlung und historisches Bewußtsein (Hefte 1 u. 2) bis hin zur Zeitgeschichte (Heft 4).

Das erste Heft befaßt sich unter dem Titel Gedenken – Feiern – Identitäten mit der „feierlichen Erinnerung an einschneidende Ereignisse bzw. heroisierte Persönlichkeiten“ (Hannes Stekl, 3). Es ist vor allem deswegen höchst interessant, weil es den einigermaßen ungewohnten Vergleich der nationalen Festivitäten in historisch sehr unterschiedlich gewachsenen Staaten anstellt: In fünf Aufsätzen werden für ebensoviele Länder, nämlich Deutschland (Hannes Stekl), Frankreich (Berthold Unfried), Japan (Ingrid Getreuer-Kargl), Österreich (Gustav Spann) und die USA (Thomas Fröschl), die Feiertage beziehungsweise ganz allgemein die öffentliche Festkultur und deren Bedeutung für das nationale Selbstverständnis analysiert.

In den USA sind es das Verhältnis der Bundesstaaten zueinander und die Struktur der Wechselwirkung, in der das Land mit Europa gestanden ist, welche die Nationwerdung bestimmt haben. Die dafür bedeutenden Ereignisse fallen in eine zeitlich relativ kurze Periode, während der die USA einen Platz in der internationalen Staatenwelt suchten.

In Frankreich ist die Tendenz zu einer Kommerzialisierung des Gedenkens auszumachen, welche im Zusammenhang mit dem Verlust der Bedeutung der republikanischen Staatsidee steht. Die öffentliche Festkultur an sich ist von einem laizistischen Kalender bestimmt, der unter der Leitidee der französischen Revolution steht. Ähnlich wie in Frankreich präsentiert sich die nationale Festkultur Deutschlands in Abgrenzung zur kraftvoll prägenden religiösen Festkultur.

Das Problem in Österreich wiederum ist, daß hier auf kein Ereignis zurückgeblickt werden kann, das staatstragend und für die große Bevölkerungsmehrheit verbindlich als Initialereignis dienen könnte. Den Nationalfeiertag am 26. Oktober zu feiern ist eine Notlösung, deren staatstragende Fundierung zunehmend an Gewicht verliert und deshalb immer wieder zur Diskussion steht. Umgekehrt allerdings schöpft der Termin mit Fortdauer der Jahre seine Kraft immer mehr aus einer Art immanenter Tradition. In Japan schließlich steht eine ganze Reihe von nationalen Feiertagen zur Verfügung, die zumeist in Verbindung mit dem Kaiserhaus stehen oder allgemein gesellschaftliche Inhalte aufweisen (Arbeitsdankfest, Tag der Kinder, Tag der Leibeserziehung et cetera).

Das Heft insgesamt steht ganz im Dienste der eingangs erwähnten Bemühungen, geronnene Geschichtsbilder aufzulösen. Explizit wird – auf Pierre Nora verweisend – in der Darstellung der offiziellen Erinnerungskultur „einer kritischen Geschichte“ gegenüber „einer totemistischen Geschichte“ der Vorzug gegeben (Stekl, 4).

Das zweite Heft ist dem Thema Geschichtsunterricht in Zentral- und Osteuropa gewidmet. Die Herausgeberinnen und Herausgeber der Beiträge zur historischen Sozialforschung haben eine große Zahl von Autorinnen und Autoren aus den meisten europäischen Reformstaaten versammelt, die über die Entwicklung der in ihren jeweiligen Ländern gültigen Lehrpläne berichten. Vorgegebene Schwerpunkte waren dabei – dem Programm der Zeitschrift entsprechend – Fragen nach sozial- wirtschafts- und kulturgeschichtlichen Themen sowie nach dem Stellenwert der Frauengeschichte im Unterricht. Die Beiträge aus den zentral- und osteuropäischen Staaten werden durch die Präsentation von internationalen und bilateralen Einrichtungen, welche eine Kooperation in verschiedenen Bereichen der Geschichtsvermittlung betreiben, sowie Projektberichte ergänzt. Insgesamt gibt das Heft einen guten Einblick in eine jeweils offiziell gültige, nationale Historiographie, als deren strukturierter Ausdruck diese Lehrpläne gelten können. Fast ebenso „gesichert“ und konsequent wie die früheren, für alle Länder einheitlichen Geschichtsbilder zeigt sich das postkommunistische Geschichtsverständnis in seiner Abkehr davon.

Kreuzzüge (Heft 3) sind ein Thema, das im Geschichtsunterricht hierzulande verhältnismäßig breiten Raum einnimmt; dies wohl wegen seiner schillernden Gestalt und ob des vergleichsweise großen Interesses, das ihm von seiten der Schülerinnen und Schüler entgegengebracht wird. Gegenüber den auch in Lexika festgeschriebenen an den Abläufen orientierten Darstellungen werden hier aber explizit typologische Überlegungen angestellt und strukturelle Zusammenhänge erläutert (Peter Feldbauer, Michael Mitterauer, John Morrissey, 115). Im Mittelpunkt steht die Bedeutung des Phänomens für die Machtentfaltung und historische Entwicklung der Westkirche und ganz allgemein die gesellschaftliche Funktion, welche Kreuzzüge erfüllt haben: der „Grad der Militarisierung von Religion“ (Michael Mitterauer, 125) oder inwieweit „der `Krieg des Papstes´ das Papsttum und damit die Westkirche in ihrem Wesen verändert hat.“ (ders., 124) Der Blick auf die Auswirkungen von Kreuzzügen auf die islamische Gesellschaft macht deutlich, daß die Kreuzzüge „für Europa epochal und für Byzanz eine Katastrophe waren, für den arabisch-islamischen Raum aber nur eine, regional bedrohliche, Beunruhigung“ darstellten (Peter Feldbauer, 146). Nichtsdestotrotz – und das ist wohl die bedeutsamste Feststellung – beeinflußten die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen osmanischer und westeuropäischer Welt das Verhältnis zwischen Islam und Christentum nachhaltig.

Das vierte Heft schließlich ist mit Vertreibung – Aussiedlung – Flucht. Ethnische Homogenisierung in Mittel- und Osteuropa nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs betitelt. Es beinhaltet einen Aufsatz, der die Typen und Verlaufsmodelle des Phänomens herausarbeitet (Hanns Haas), sowie drei Fallstudien: die Vertreibung der Jugoslawiendeutschen (Gabriela Stieber), der deutschsprachigen Böhmen und Mähren (Emilia Hrabovec) sowie der Rumäniendeutschen (Hermann Volkmer). Damit zeigt das Heft allerdings eine exemplarische Einseitigkeit, zumal der Titel allgemeiner gehalten ist und suggeriert, daß nicht bloß die Vertreibungen deutschsprachiger Personengruppen behandelt wird. Eine solche inhaltliche Verengung bedeutet aber nicht, daß deswegen auch eine Parteinahme erkennbar wäre, wie sie der Beschäftigung mit dem Schicksal von Heimatvertriebenen in früheren Jahrzehnten zu eigen war. Die Aufsätze zeigen deutlich, daß mit den 50 Jahren, die seit den Ereignissen vergangen sind, auch persönliche Betroffenheit und verallgemeinernde Schuldzuweisungen einer nüchternen Betrachtungsweise Platz gemacht haben. Hanns Haas verzichtet im einleitenden Aufsatz beispielsweise völlig auf die bis in die allerjüngste Zeit häufig geübte Unart des Aufrechnens von Opfern, obwohl dies bei der Erstellung einer Typologie naheliegen könnte.

Eine Besprechung der Beiträge zur Fachdidaktik, die den Ausgaben 1, 3 und 4 beigeheftet sind, unterbleibt hier, wiewohl dieselben für den Geschichtsunterricht sicherlich ausgesprochen hilfreich sind. Die Beiträge zur historischen Sozialkunde lassen in Aufmachung und Aufbau den Anspruch erkennen, leicht lesbar zu sein. Dennoch sind sie immer wieder eine willkommene Informationsquelle, die durchaus tiefer reicht.

Christian Stadelmann