Beiträge zur historischen Sozialkunde. Österreichische Vierteljahresschrift für Lehrerfortbildung mit Beiträgen zur Fachdidaktik, 25. Jg., 1995

Die Beiträge zur historischen Sozialkunde werden seit 1971 vom Verein für Geschichte und Sozialkunde, der seinen Sitz am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien hat, herausgegeben. Mitglieder des Vereins sind Lehrende an Universitäten, Allgemeinbildenden und Berufsbildenden Höheren Schulen.

Nach einer 1995 anläßlich des 25jährigen Bestehens der Zeitschrift erschienenen Informationsbroschüre ist das Ziel der Zeitschrift:

„Neuere sozialhistorische Literatur für bestimmte Themenbereiche in knapper und lesbarer Form für Lehrerinnen und Lehrer aufzubereiten und für den Unterricht nutzbar und zugänglich zu machen. Vorrangiges Interesse ist es nicht, ein Angebot an Stundenbildern vorzulegen, sondern Überblicksartikel bzw. eine Einfahrung in größere (sozial-)historische Zusammenhänge zu bieten.“

Die Zeitschrift erscheint vierteljährlich im A4-Format. Das Inhaltsverzeichnis des jeweils vorangegangenen Jahrganges wird mit der ersten Nummer des nächstfolgenden mitgeliefert. 2000 Exemplare werden pro Ausgabe aufgelegt. Der größte Teil wird über Abonnements abgesetzt, die im freien Verkauf erhältlichen Exemplare werden hauptsächlich von Studierenden erworben. Ein Einzelheft der Beiträge zur historischen Sozialkunde kostet 60,- Schilling, ein Jahresabonnement einschließlich Porto 220,- Schilling, für Studierende 170,- Schilling.

Jede Nummer ist einem thematischen Schwerpunkt (zum Beispiel „Die Alten“, „Soziale Schichtungen im Mittelalter“, „Bauernkriege“, „Die Frau in der Familie“, „Kriminalität und Geschichte“, „Geschichte des Sports“, „Hunger“, „Verkehr“, „Sexualität“, „Fasching“, „Mensch und Tier“, „Kunst und Kitsch“) gewidmet und enthält vier bis sechs Artikel verschiedener Autorinnen und Autoren zum Thema. Fallweise bietet ein Vorwort der Herausgeberschaft einen knappen Einstieg; ausgewählte Literatur schließt an. Die Autorinnen und Autoren der Artikel werden meist kurz vorgestellt. Empfehlungen zum Einbau des Themas in den Lehrplan sind in den ersten Nummern gegeben, bald aber weggelassen worden. Ein Heft umfaßt durchschnittlich 20 Seiten.

Ab der vierten Nummer des 11. Jahrgangs ist die Zeitschrift um einen Fachdidaktikteil erweitert. Dieser enthält Beschreibungen von Projekten, die an verschiedenen Schulen durchgeführt wurden, Tips zur Wissensvermittlung, zum Beispiel Film und Unterricht, Informationen über die Gründung neuer Bibliotheken oder Institute, Konferenzankündigungen, Informationen über Lehrplanänderungen und sonstige schulpolitische Beschlüsse. Die Beiträge sind praxisbezogen, präzise, gut recherchiert und von der Lehrerschaft direkt verwertbar, aber auch für außerschulische Bildungsarbeit relevant.

Die äußere Form der themenbezogenen Artikel verzichtet bis zu einem gewissen Grad auf einen wissenschaftlichen Apparat. Es werden keine Zitate angegeben und meist sind die literarischen Quellen nicht genannt. Allerdings werden die Artikel mit Statistiken, Abbildungen, Quellentexten und Graphiken aufbereitet. Die Themen und die Art der Bearbeitung sind dem klassischen Bereich der Wirtschafts- und Sozialgeschichte verpflichtet. Der Schwerpunkt liegt auf globalen Zusammenhängen, wirtschaftlicher Entwicklung als Basis von sozialen Umstrukturierungen, Langzeitveränderungen und großräumigen soziokulturellen Vergleichen. Jedoch decken die einzelnen Aufsätze das Schwerpunktthema der Nummer nicht ab, sondern geben meist einen Überblick über einen Teilbereich.

Der Jahrgang 1995 hatte folgende vier Themen zum Inhalt: „50 Jahre ÖGB“, „Besatzung in Österreich“, „Migration im Weltsystem“, „Beruf - Geschlecht“. Von den sechs Autorinnen und Autoren des ersten Heftes („50 Jahre ÖGB“) gehören vier dem Österreichischen Gewerkschaftsbund beziehungsweise der Arbeiterkammer an. Die Artikel zeigen dementsprechend eine fundierte Innensicht, weniger eine kritische Analyse, was insofern schade ist, als dieses Heft speziell auch den Funktionären und Betriebsräten des Österreichischen Gewerkschaftsbundes zugekommen ist.

Der Inhalt des zweiten Heftes wird seinem Titel, „Besatzung in Österreich“, nicht ganz gerecht, da nur ökonomische beziehungsweise sicherheits- und kulturpolitische Aspekte aus dem Umfeld der britischen Besatzung besprochen werden. Die konkret angeführten Beispiele für entsprechende Maßnahmen der Besatzung stammen daher aus deren Zone, das heißt aus Kärnten, der Steiermark und Teilen Wiens. Vor allem im letzten Artikel über Kulturpolitik (Johannes Feichtinger: „...fresh nourishment to the arid soil...“ Britische Kulturpolitik in Österreich nach 1945, 57-62) entsteht der Eindruck, einzig die britische Besatzung hätte kulturelles Engagement gezeigt, während die USA, die UdSSR und Frankreich ausschließlich ideologische Propaganda ausgeübt hätten. Der Fachdidaktikartikel ist ein fundierter Bericht über die von Schülerinnen und Schülern gestaltete Ausstellung „Migranten und Minderheiten im Bezirk Margareten“.

In Heft 3, „Migration im Weltsystem“, behandelt der erste Artikel den Umbruch der Weltwirtschaft, also die zunehmende Technologisierung und Globalisierung der Produktion, ohne jedoch auf deren Zusammenhänge mit Migration einzugehen (August Gächter u. a.: Umbruch der Weltwirtschaft, 68-72). Die nächsten vier Aufsätze sind dann konkrete Beispiele für Migrationsbewegungen in folgenden Regionen: New York, das südliche beziehungsweise Zentralafrika, Südostasien und Österreich. Der Fachdidaktikteil behandelt das Medium Film als Unterrichtsmittel am Beispiel der Mexikanischen Revolution.

Das letzte Heft des Jahrganges 1995 trägt den Titel „Beruf- Geschlecht. Zur Professionalisierung der weiblichen Erwerbsarbeit im 19. und 20. Jahrhundert“. In der Einleitung werden „Beruf’ und „Geschlecht“ definiert und es wird auf die geschlechterspezifische Entwicklung im Erwerbswesen hingewiesen. Der erste Artikel (Margret Friedrich: Zwischen „Beruf der Frau“ und Frauenberuf- Zur Entwicklung des berufsbildenden Schulwesens für Mädchen im „langen“ 19. Jahrhundert, 105-112) behandelt die allgemeine Situation der Frauen im berufsbildenden Schulwesen sowie dessen Entwicklung. Die weiteren Aufsätze gehen auf einzelne Berufe ein, die vorwiegend von Frauen ausgeübt werden (Volksschul)Lehrerin (Gunda Barth-Scalmani: Die (Volksschul-)Lehrerin: Zur historischen Dimension eines Frauenberufes, 113-119), Bibliothekarin (Helga Lüdtke: Arbeit aus Liebe zur Sache? Zu den Anfängen des Berufes der Bibliothekarin in Deutschland, 1895-1920, 120-125) und Postbeamtin (Sylvia Hahn: „Emsig, eifrig, verläßlich“. Frauen im Post- und Telegraphenwesen oder: die ersten Beamtinnen, 126-133). Die Artikel stellen eine fundierte Auseinandersetzung mit dem Thema Frauenarbeit dar. Bezeichnend ist, daß sie ausschließlich von Frauen verfaßt wurden. Der Fachdidaktikteil bringt zwei von Schülerinnen verfaßte Aufsätze über die Oral-History-Methode.

Für alle vier Hefte des Jahrganges 1995 gilt, daß die Themen vor allem statistisches Material verwenden, also Zahlen, Daten und Fakten präsentieren. Spezifische Formen und Zusammenhänge des Alltagslebens, Gruppenkulturen, kulturelle Strategien zur Bewältigung von Krisensituationen, Normen und Leitmotive oder Materialisierungen der Kultur sind höchstens marginal Themen der Beiträge zur historischen Sozialkunde.

Brigitte Löcker-Rauter, Kathrin Pallestrang

  

Beiträge zur historischen Sozialkunde, 26. Jg. 1996, H. 1

Der 26. Jahrgang der „Beiträge“ setzt in gewohnter Zuverlässigkeit seine Bemühungen fort, zur Allgemeingültigkeit geronnene Geschichtsbilder durch aktuelle Forschungsergebnisse zu ergänzen und gegebenenfalls zu korrigieren. Das inhaltliche Spektrum der vier 1996er Hefte reicht grobgefaßt von der Mediävistik (Heft 3) über Geschichtsvermittlung und historisches Bewußtsein (Hefte 1 u. 2) bis hin zur Zeitgeschichte (Heft 4).

Das erste Heft befaßt sich unter dem Titel Gedenken – Feiern – Identitäten mit der „feierlichen Erinnerung an einschneidende Ereignisse bzw. heroisierte Persönlichkeiten“ (Hannes Stekl, 3). Es ist vor allem deswegen höchst interessant, weil es den einigermaßen ungewohnten Vergleich der nationalen Festivitäten in historisch sehr unterschiedlich gewachsenen Staaten anstellt: In fünf Aufsätzen werden für ebensoviele Länder, nämlich Deutschland (Hannes Stekl), Frankreich (Berthold Unfried), Japan (Ingrid Getreuer-Kargl), Österreich (Gustav Spann) und die USA (Thomas Fröschl), die Feiertage beziehungsweise ganz allgemein die öffentliche Festkultur und deren Bedeutung für das nationale Selbstverständnis analysiert.

In den USA sind es das Verhältnis der Bundesstaaten zueinander und die Struktur der Wechselwirkung, in der das Land mit Europa gestanden ist, welche die Nationwerdung bestimmt haben. Die dafür bedeutenden Ereignisse fallen in eine zeitlich relativ kurze Periode, während der die USA einen Platz in der internationalen Staatenwelt suchten.

In Frankreich ist die Tendenz zu einer Kommerzialisierung des Gedenkens auszumachen, welche im Zusammenhang mit dem Verlust der Bedeutung der republikanischen Staatsidee steht. Die öffentliche Festkultur an sich ist von einem laizistischen Kalender bestimmt, der unter der Leitidee der französischen Revolution steht. Ähnlich wie in Frankreich präsentiert sich die nationale Festkultur Deutschlands in Abgrenzung zur kraftvoll prägenden religiösen Festkultur.

Das Problem in Österreich wiederum ist, daß hier auf kein Ereignis zurückgeblickt werden kann, das staatstragend und für die große Bevölkerungsmehrheit verbindlich als Initialereignis dienen könnte. Den Nationalfeiertag am 26. Oktober zu feiern ist eine Notlösung, deren staatstragende Fundierung zunehmend an Gewicht verliert und deshalb immer wieder zur Diskussion steht. Umgekehrt allerdings schöpft der Termin mit Fortdauer der Jahre seine Kraft immer mehr aus einer Art immanenter Tradition. In Japan schließlich steht eine ganze Reihe von nationalen Feiertagen zur Verfügung, die zumeist in Verbindung mit dem Kaiserhaus stehen oder allgemein gesellschaftliche Inhalte aufweisen (Arbeitsdankfest, Tag der Kinder, Tag der Leibeserziehung et cetera).

Das Heft insgesamt steht ganz im Dienste der eingangs erwähnten Bemühungen, geronnene Geschichtsbilder aufzulösen. Explizit wird – auf Pierre Nora verweisend – in der Darstellung der offiziellen Erinnerungskultur „einer kritischen Geschichte“ gegenüber „einer totemistischen Geschichte“ der Vorzug gegeben (Stekl, 4).

Das zweite Heft ist dem Thema Geschichtsunterricht in Zentral- und Osteuropa gewidmet. Die Herausgeberinnen und Herausgeber der Beiträge zur historischen Sozialforschung haben eine große Zahl von Autorinnen und Autoren aus den meisten europäischen Reformstaaten versammelt, die über die Entwicklung der in ihren jeweiligen Ländern gültigen Lehrpläne berichten. Vorgegebene Schwerpunkte waren dabei – dem Programm der Zeitschrift entsprechend – Fragen nach sozial- wirtschafts- und kulturgeschichtlichen Themen sowie nach dem Stellenwert der Frauengeschichte im Unterricht. Die Beiträge aus den zentral- und osteuropäischen Staaten werden durch die Präsentation von internationalen und bilateralen Einrichtungen, welche eine Kooperation in verschiedenen Bereichen der Geschichtsvermittlung betreiben, sowie Projektberichte ergänzt. Insgesamt gibt das Heft einen guten Einblick in eine jeweils offiziell gültige, nationale Historiographie, als deren strukturierter Ausdruck diese Lehrpläne gelten können. Fast ebenso „gesichert“ und konsequent wie die früheren, für alle Länder einheitlichen Geschichtsbilder zeigt sich das postkommunistische Geschichtsverständnis in seiner Abkehr davon.

Kreuzzüge (Heft 3) sind ein Thema, das im Geschichtsunterricht hierzulande verhältnismäßig breiten Raum einnimmt; dies wohl wegen seiner schillernden Gestalt und ob des vergleichsweise großen Interesses, das ihm von seiten der Schülerinnen und Schüler entgegengebracht wird. Gegenüber den auch in Lexika festgeschriebenen an den Abläufen orientierten Darstellungen werden hier aber explizit typologische Überlegungen angestellt und strukturelle Zusammenhänge erläutert (Peter Feldbauer, Michael Mitterauer, John Morrissey, 115). Im Mittelpunkt steht die Bedeutung des Phänomens für die Machtentfaltung und historische Entwicklung der Westkirche und ganz allgemein die gesellschaftliche Funktion, welche Kreuzzüge erfüllt haben: der „Grad der Militarisierung von Religion“ (Michael Mitterauer, 125) oder inwieweit „der `Krieg des Papstes´ das Papsttum und damit die Westkirche in ihrem Wesen verändert hat.“ (ders., 124) Der Blick auf die Auswirkungen von Kreuzzügen auf die islamische Gesellschaft macht deutlich, daß die Kreuzzüge „für Europa epochal und für Byzanz eine Katastrophe waren, für den arabisch-islamischen Raum aber nur eine, regional bedrohliche, Beunruhigung“ darstellten (Peter Feldbauer, 146). Nichtsdestotrotz – und das ist wohl die bedeutsamste Feststellung – beeinflußten die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen osmanischer und westeuropäischer Welt das Verhältnis zwischen Islam und Christentum nachhaltig.

Das vierte Heft schließlich ist mit Vertreibung – Aussiedlung – Flucht. Ethnische Homogenisierung in Mittel- und Osteuropa nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs betitelt. Es beinhaltet einen Aufsatz, der die Typen und Verlaufsmodelle des Phänomens herausarbeitet (Hanns Haas), sowie drei Fallstudien: die Vertreibung der Jugoslawiendeutschen (Gabriela Stieber), der deutschsprachigen Böhmen und Mähren (Emilia Hrabovec) sowie der Rumäniendeutschen (Hermann Volkmer). Damit zeigt das Heft allerdings eine exemplarische Einseitigkeit, zumal der Titel allgemeiner gehalten ist und suggeriert, daß nicht bloß die Vertreibungen deutschsprachiger Personengruppen behandelt wird. Eine solche inhaltliche Verengung bedeutet aber nicht, daß deswegen auch eine Parteinahme erkennbar wäre, wie sie der Beschäftigung mit dem Schicksal von Heimatvertriebenen in früheren Jahrzehnten zu eigen war. Die Aufsätze zeigen deutlich, daß mit den 50 Jahren, die seit den Ereignissen vergangen sind, auch persönliche Betroffenheit und verallgemeinernde Schuldzuweisungen einer nüchternen Betrachtungsweise Platz gemacht haben. Hanns Haas verzichtet im einleitenden Aufsatz beispielsweise völlig auf die bis in die allerjüngste Zeit häufig geübte Unart des Aufrechnens von Opfern, obwohl dies bei der Erstellung einer Typologie naheliegen könnte.

Eine Besprechung der Beiträge zur Fachdidaktik, die den Ausgaben 1, 3 und 4 beigeheftet sind, unterbleibt hier, wiewohl dieselben für den Geschichtsunterricht sicherlich ausgesprochen hilfreich sind. Die Beiträge zur historischen Sozialkunde lassen in Aufmachung und Aufbau den Anspruch erkennen, leicht lesbar zu sein. Dennoch sind sie immer wieder eine willkommene Informationsquelle, die durchaus tiefer reicht.

Christian Stadelmann

 

Beiträge zur historischen Sozialkunde, Jg. 27, 1997, H. 1-4, 154 Seiten

Mit den vier Heften der „Beiträge“ des Jahrgangs 1997 liegt wieder ein breites Spektrum anregender Artikel vor. Thematisch wechseln historische Untersuchungen (Heft 1 und 3) mit vermehrt gegenwartsbezogenen (Heft 2 und 4) ab.

Heft 1/97, Ein europäischer Sonderweg? Mittelalterliche Grundlagen der Gesellschaftsentwicklung, befaßt sich in sechs Aufsätzen mit entscheidenden Einflußfaktoren auf den gesellschaftlichen und politischen Werdegang der „westlichen“ Welt, die sich im Hochmittelalter in West- und Mitteleuropa manifestiert haben. Das spezifisch Europäische daran wird oft in Gegenüberstellungen mit vergleichbaren Entwicklungen in anderen Kulturräumen verdeutlicht. Sehr ansprechend ist die Idee, die einzelnen Beiträge mit Auswirkungen des jeweils beschriebenen Phänomens auf Individuen, andere Sozialformen und gesellschaftliche Entwicklungen zu beschließen, was allerdings nicht immer in gleicher Weise gelungen ist. Die Arbeiten sind aus Universitätsvorlesungen hervorgegangen. Das zeugt von einer großen Leistung der Studierenden, erklärt aber auch qualitative Unterschiede der Texte.

Insgesamt gewinnt man die Erkenntnis, daß vor allem die Entwicklung der Papstkirche (Christian Kniescheck, 33-38) und des Ordenswesens (ders.: Geistliche Hausgemeinschaften und universale Orden, 10-21) für den „europäischen Sonderweg“ richtungsweisend waren. Sie beeinflußten auch die Privatsphäre entscheidend und begünstigten so beispielsweise das Spezifikum der gattenzentrierten Familie (Bernhard Zeller, 4-9). Diese unterschied sich durch die ihr zugrundeliegenden neuen Bindungsmöglichkeiten jenseits leiblicher Verwandtschaftsverhältnisse grundlegend etwa von den in vielen Kulturräumen üblichen patrilinearen Verwandtschaftsstrukturen. Auch wird durch das besondere Verhältnis zwischen Kirche/Ordenswesen und weltlichen Herrschern in Europa die Entwicklung von Lehenswesen und Ständeverfassung weitreichend beeinflußt. In seinem Aufsatz Zu mittelalterlichen Grundlagen europäischer Sozialformen (40-46) faßt Michael Mitterauer die Erkenntnisse der vorangegangenen Beiträge zusammen und stellt sie in einen gesamteuropäischen Kontext, wobei er besonders den Fragen nach den Ursachen ihres Verbreitungsverlaufes und den determinierenden Kulturgrenzen innerhalb Europas nachgeht.

Der stärkere Gegenwartsbezug des Heftes 2/97 ist durch seinen Titel bereits vorgegeben: Region und regionale Identität sind Schlagworte, die sich seit einigen Jahren einer guten Konjunktur erfreuen. Gerald Wood spürt in seinem Aufsatz über Die Wiederkehr der Region und ihre Hintergründe (52-56) verschiedenen Bereichen nach, in denen der genannte Begriff immer wieder schlagwortartig zum Einsatz kommt, und hinterfragt die Ursachen für seine scheinbare Bedeutungssteigerung. Er kommt zu dem Schluß, daß es „Region“ per se gar nicht gibt, daß „Region“ vielmehr ein gesellschaftliches Konstrukt ist, mit dessen Hilfe die jeweiligen Akteurinnen und Akteure aus Wirtschaft, Politik, Ökologie et cetera ganz konkrete Ziele verfolgen. Andrea Komlosy sieht in der beobachtbaren zunehmenden Regionenbildung vor allem eine Antwort auf die Globalisierung (Der zerbrochene Raum. Region im Prozeß der Globalisierung, 57-64): Jenseits historischer oder geographischer Bedingtheiten zwingt die Wirtschaftsentwicklung zu Zusammenschlüssen oft völlig neu konstruierter „Regionen“, die sich in dieser Form im Konkurrenzkampf um die Teilhabe an Finanzierungen durchzusetzen versuchen. Sie illustriert anhand unterschiedlicher Regionalisierungstrends in West- und Osteuropa, wie im Ringen um (Standort-)Vorteile auch Ethnisierungen, Nationalismen und Staatenzerfall in Kauf genommen werden. Zwei konkrete Fälle von Regionalisierungen in West- und Osteuropa werden in den Aufsätzen von Jean-Paul Lehners/Lars Bolle (Region in Westeuropa: Am Beispiel der grenzüberschreitenden Region Saar-Lor-Lux, 64-73) und Hannes Hofbauer (Region in Osteuropa: Das Beispiel Transsilvanien/Siebenbürgen, 73-80) beschrieben. Obwohl diese zwei „Regionen“ von ihrer geographischen, historischen und wirtschaftlichen Ausgangslage her äußerst verschieden sind, richten sich die - jeweils auf unterschiedliche Weise zu verwirklichen gesuchten - Bemühungen der Betroffenen letztendlich in beiden Fällen primär auf wirtschaftliche Interessen. Dieser Schluß drängt sich aus der Summe der wissenschaftlichen Beiträge des Heftes ohnehin auf: wer auch immer das Schlagwort der „Regionen“ auf seine Fahnen heftet, letztendlich sollen wirtschaftliche Vorteile daraus gezogen werden. Der letzte, essayistische Beitrag des Heftes, ist ein Rundumschlag von Günther Nenning, der den verborgenen Zusammenhängen von Heimat, Regionalismus und Nationalismus nachspürt („Heimat ist, wo wir noch nie waren“. Eine europäische Ideenmusik, 81-86).

Heft 3/97 widmet sich wieder verstärkt einem historischen Thema, nämlich der Industriellen Revolution. Hier gilt es in erster Linie, die geläufigen Vorstellungen des „Revolutionären“ an dieser Entwicklung zurechtzurücken und mit Theorien, die von einer „graduellen“ Industrialisierung ausgehen, zu konfrontieren. Die unterschiedlichen Bedingungen und Verläufe der Industrieentwicklung innerhalb Europas lassen jedoch keine einheitliche These zu. In ihrem einleitenden Aufsatz Neuere Theorien zur Industriellen
Revolution
reklamieren die Autoren Markus Cerman und Peter Eigner die stärkere Einbeziehung sozialer Entwicklungen und vermehrte Berücksichtigung lokaler Unterschiede in die Forschung, die bislang überwiegend von wirtschaftswissenschaftlichen Fragestellungen dominiert ist. Leider knüpfen die weiteren Beiträge an diese Anregung - was den sozialen Aspekt betrifft - nicht an. Sie vermitteln aber gute Einblicke in den unterschiedlichen Verlauf der Industrialisierung innerhalb Europas (einzeln und im Vergleich) und diskutieren mögliche Ursachen (Sidney Pollard: Die Industrielle Revolution in England und auf dem Kontinent: ein Vergleich der Industrialisierungsmuster, 98-103; Dieter Ziegler: Die „Industrielle Revolution“ in den Staaten des Deutschen Zollvereins, 104-111; Peter Eigner: Die Habsburgermonarchie im 19. Jahrhundert: Ein Modellfall verzögerter Industrialisierung?, 112-122).

Heft 4/97 führt uns erneut in die Gegenwart: Zivilgesellschaft und Demokratie lautet der Titel. Der kurze einleitende Beitrag von Birgit Wagner erklärt den Begriff „Zivilgesellschaft“ (società civile) bei Antonio Gramsci (127-129) und betont insbesondere dessen oftmals falsche Anwendung. In seinem Aufsatz Zivilgesellschaft und bürgerliche Welten (129-134) entlarvt Urs Altermatt die Zivilgesellschaften als neues identitätsstiftendes Instrument, mit einer ähnlichen Funktion, wie sie im vorangegangenen Heft schon den „neuen Regionen“ nachgesagt worden ist. Am Beispiel der Schweiz argumentiert er seine zwei Thesen, daß sich erstens ohne entsprechende soziale und wirtschaftliche Absicherung keine Zivilgesellschaft etablieren könne, und daß zweitens eine Zivilgesellschaft Bürger mit der Bereitschaft und Möglichkeit zur Selbstregierung voraussetze. Hans-Jürgen Puhle versucht die „Pfadabhängigkeit“ von Demokratisierungsprozessen (Demokratisierung und gesellschaftliche Entwicklung in Südeuropa, Osteuropa und Lateinamerika, 135-145) typologisch in sieben Punkten darzustellen. Diese sind: Modernisierungsprozesse, das Konvergieren anfangs stark unterschiedlicher Systeme, Demokratisierungswellen, der demokratische Konsolidierungsprozeß, die Rolle der Zivilgesellschaft als Übergangsfaktor, Probleme der Demokratisierung (am Beispiel der genannten Großräume) und schließlich Zusammenschau des wissenschaftlichen Diskurses zur Demokratisierung.

Das Heft schließt mit einem brillanten Aufsatz von Hans-Heinrich Nolte (Zivile Gesellschaft, Partei und Militär in der Endphase der Sowjetunion, 146-154), der das Zusammenspiel der Interessen der kommunistischen Eliten mit Militär/Rüstungspolitik und der zivilen Gesellschaft in Hinblick auf den Zusammenbruch der UdSSR analysiert.

Insgesamt liegt mit dem Jahrgang 1997 ein sehr lesenswertes Werk vor, in dem das subjektive Engagement der Autorinnen und Autoren umso deutlicher hervortritt, je aktueller die Themenstellung ist. Daher fallen gerade diese gegenwartsbezogenen Aufsätze oft entsprechend provokant und anregend für weiterführende Diskussionen aus.

Die Beiträge zur Fachdidaktik erfahren hier, wie schon im Band 2 des Jahrbuches, keine Besprechung.

Die Beiträge zur historischen Sozialkunde erscheinen vierteljährlich. Ein Einzelheft kostet öS 60,-, (Ausland DM 10,-), das Jahresabonnement ist für öS 220,- (Studierende öS 170,-) im Inland und für DM 38,- im Ausland erhältlich.

Dorothea Jo. Peter