| Historische Anthropologie. Kultur Gesellschaft Alltag, 4. Jg. 1996,
H. 1-3, 485 S.
Im Vergleich zu anderen Zeitschriften ist die Historische Anthropologie schon optisch sehr ansprechend. Violett, pink und weiß dominieren die Umschlaggestaltung, das sich alljährlich ändernde Titelbild zeigt im ersten Jahr ein Abbildung von Camus’ Onkel Gustav mit seiner Gattin vor dem familieneigenen „Metzgerladen“, den aktuellen vierten Jahrgang schmückt ein Ausschnitt aus Stefan Lochners Bild „Das jüngste Gericht“. Schade, daß in verschiedenen Bibliotheken (beispielsweise am Institut für Volkskunde der Universität Wien) durch das Binden die Titelblätter verloren gingen. Die Zeitschrift gehört zum Programm des Böhlau Verlags, pro Jahr erscheinen drei Hefte von je ca. 160 Seiten. Die Einzelnummer kostet öS 254,--, das Jahresabo 570,-- Schillinge, für Studentinnen und Studenten gibt es die Historische Anthropologie ein Jahr lang um öS 497,--. Das Team der Herausgeberinnen und Herausgeber besteht derzeit aus 14 Personen - überwiegend Historikerinnen und Historiker, aber auch Rolf Lindner und Utz Jeggle arbeiten mit. Jeweils zwei Wissenschaftlerinnen beziehungsweise Wissenschaftler aus diesem Kreis übernehmen die Edition eines Heftes; die Redaktionsadresse ist bei Richard van Dülmen in Saarbrücken. Der internationale wissenschaftliche Beirat setzt sich aus 28 Leuten zusammen, das ist ein Hinweis auf einen der Ansprüche der Zeitschrift, ein Medium historisch-kultureller Verständigung und internationaler Kontakte zu sein. Ein besonderes Anliegen bildet die Förderung des Austauschs mit den Ländern Ostmitteleuropas (konkrete Ergebnisse sind noch eher spärlich - ein Beispiel wäre im ersten Heft 1995 Kristina Popovas Artikel über Zeit- und Raumbewußtsein im bulgarischen Tešovo des 19. und 20. Jahrhunderts). Mehrere Autorinnen und Autoren von außerhalb des deutschsprachigen Raumes publizierten in diesen ersten vier Jahren; den Schwerpunkt bilden hier Texte aus den USA und aus Italien. Ramachandra Guha mit einem Text über die Zusammenhänge von Cricket und Kolonialismus in Indien (4. Jg., 1996, H. 2) bildet eher eine „exotische“ Ausnahme, ebenso wie der Aufsatz Akiko Moris, die ethnologische Familienforschung auf einem Kärntner Friedhof betrieb (3. Jg., 1995, H. 1). Bisher gelangten 21 Aufsätze weiblicher Autoren in der Historischen Anthropologie zur Veröffentlichung (46 Männer) und achtzehnmal äußerten sich Wissenschaftlerinnen im Forum (35 Männer); an der Redaktion beteiligen sich vier Frauen. Also auch in diesem Medium kein Aufbrechen des Überhangs von Autoren. Praktisch ist das Adressenverzeichnis der Autorinnen und Autoren hinten im jeweiligen Heft. Benutzungsfreundlich auch eine Themenübersicht am Heftrücken und innen die Vorschau auf die nächste Ausgabe. Der Aufbau der Zeitschrift ist klassisch: ein Aufsatzteil, dazu das schon erwähnte Forum, das manchmal noch gegliedert und mit Untertiteln wie Diskussion, Literaturbericht oder Kritik und Archiv versehen und mittels grafischer Gestaltung von den Aufsätzen abgehoben ist. Das Forum dient der Vorstellung von Projektentwürfen, der Diskussion theoretischer Entwürfe und der wissenschaftlichen Entwicklungen und bietet Raum für ausführliche und aufschlußreiche Literaturbesprechungen, Ausstellungs- und Filmkritik und diverse Berichte. Die im Forum zu findenden Beiträge sind vielfältig und informativ, teilweise auch recht ungewöhnlich. Im Heft 2 des Jahrgangs 1995 werden etwa zwei Beiträge zum Spielfilm „Schindlers Liste“ gebracht. In der Nummer 1 1996 wird die Kontinuität der Rassenhygiene in deutschen Universitäten diskutiert. Erschreckend ist die Aktualität von Vorstellungen der Rassenhygiene und der gesellschaftlichen Funktionalität sozialbiologistischer Konzepte; und eine öffentliche Debatte - auch in Anbetracht des Potentials der Gentechnologie - findet derzeit nicht statt. Unter der Rubrik Archiv stellt sich Paul Jenkins im selben Heft die Frage „Warum tragen Missionare Kostüme?“ und berichtet über Forschungsmöglichkeiten im Bildarchiv der Basler Mission. In der dritten Nummer 1996 geht es um das Problem der Leibhaftigkeit in der ethnologischen Feldforschung. Die Autorin Judith Schlehe möchte zu neuen Perspektiven anregen - auch Forscherpersonen haben einen konkreten Körper, der den äußeren Ablauf, die Fragestellungen, die Ergebnisse und Analysen der Arbeit beeinflußt und daher reflektiert werden muß. Die Ethnologin schildert dies an eigenen Erfahrungen während Feldforschungsaufenthalten in Indonesien. Soviel nur, um einen Eindruck der thematischen Zusammensetzung des Forums zu vermitteln. Um Aktualität zu sichern, sind die Hefte nicht themenorientiert, wie in der Zeitschrift insgesamt haben auch in den einzelnen Nummern verschiedenste Inhalte, Zugangsweisen und Formen der Darstellung Platz. Angestrebt wird lediglich, ein Gleichgewicht von problemorientierten Fallstudien, epochenübergreifenden Längsschnitten, methodisch-theoretischen Erörterungen innovativer Ansätze, von kulturvergleichenden Untersuchungen und historischer Aufarbeitung unmittelbar aktueller Fragen sowie von Forschungsberichten, Kontroversen und Debatten herzustellen. Bevor ich Beispiele für die Breite des Themenspektrums bringe, ein knapper Versuch, den theoretischen Hintergrund der Zeitschrift zu umreißen. Die Historische Anthropologie ist kein einheitliches Webstück gleichbleibender Stärke, mit klaren Konturen und durchgehendem Muster, viel eher ein an den Rändern ausgefranster Teppich, gewoben aus einer Menge verschiedener Materialien in unterschiedlichsten Techniken. Die Idee der Mikrostudien verbindet lose eine Vielzahl der Beiträge. Der mikrohistorische Ansatz gilt als qualitative Erweiterung der historischen Erkenntnisperspektiven, gilt - noch immer - als neuer Blickwinkel auf Geschichte, der makrohistorische Fragen und Problemstellungen nicht ausschließen soll. Oft anzutreffen ist die Methode des Kulturvergleichs, wobei konsequente Abgrenzung von Vorstellungen anthropologischer Konstanten, den scheinbar überall und allzeit gleichen menschlichen Grundbefindlichkeiten, und von Humanbiologie/Anthropologie insgesamt stattfindet. Im Zentrum steht die Vielfalt der soziokulturellen Ausdrucksformen und Praktiken. Der Begriff „Vielfalt“ wird im dreiseitigen Editorial der ersten Nummer - Synonyme nicht mitgezählt - gleich achtmal genannt. Dieses Interesse an der Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit der menschlichen Weltaneignung, das gegen euro- und ethnozentristische Sicht- und Denkweisen und gegen ungeprüfte Vorstellungen von Dauerhaftigkeit in Wissenschaft und Alltagsverständnis gerichtet ist, soll nicht zu einem „beliebigen Nebeneinander“ führen. Die Herausgeberinnen und Herausgeber verwehren sich gegen kulturrelativistisches Argumentieren (Editorial, 1. Jg., 1993, H. 1). Der Vorwurf der Beliebigkeit wird von manchen Vertreterinnen und Vertretern der Wiener Volkskunde immer wieder in Diskussionen um die Zeitschrift und die Historische Anthropologie allgemein eingebracht - stört hier was man von sich selbst kennt, an anderen am meisten? Unter dem Untertitel der Zeitschrift „Kultur-Gesellschaft-Alltag“ lassen sich nahezu unbegrenzt Themen vereinbaren. Darunter Methodisch-Theoretisches wie der Artikel der Mediävistin Caroline Bynum „Warum das ganze Theater mit dem Körper?“ im aktuellen Jahrgang (4. Jg., 1996, H. 1). Ihr Ziel ist es, eine Begegnung von Vergangenheit und Gegenwart herzustellen, dazu bringt sie mittelalterliche Bilder und Vorstellungen vom menschlichen Körper mit modernen Überlegungen zu Identität, Individualität, Materialität und Begehren in Zusammenhang. Bynum fragt, inwieweit theoretische Versuche moderner Genderforschung auf das Mittelalter anwendbar sind. Ebenfalls innerhalb der Genderforschung kritisiert Ann-Charlott Trepp im selben Heft das bipolare Modell der Geschlechtscharaktere. Am Beispiel der Tagebücher eines erfolg- und einflußreichen deutschen Juristen belegt sie, daß dieser bürgerliche Mann „[a]nders als sein ‘Geschlechtscharakter’„ war. Im Anschluß an die Tagebuchanalyse erläutert sie die Folgen der Übernahme eines historischen, gesellschaftspolitischen Konzepts für moderne wissenschaftliche Arbeit. Im Heft zwei 1996 erörtert Robert Jütte die Bedeutung der ethnographischen Methode für eine Sozial- und Kulturgeschichte der Medizin. Er freut sich, daß sozialgeschichtliche Studien zunehmend von einem breiten Kulturbegriff ausgehen und harrt eines „cultural turn“ in der Medizingeschichte. Ein Untersuchen des Erlebens und des Wahrnehmens von Körper in der Vergangenheit ermöglicht, so Jütte, Einsichten in das Grundprofil einer Kultur. Für wichtig hält er deshalb historiographisches Interesse an den vielfältigen Wechselbeziehungen zwischen den vorherrschenden medizinischen Deutungsmustern der jeweiligen Kultur. Damit ist ein weiterer Anspruch der Historischen Anthropologie angesprochen - jener der Interdisziplinarität. Einige Autorinnen und Autoren befassen sich mit allgemeinen Aspekten wie Zeit und Raum - Gerhard Strohmeier schreibt in der ersten Ausgabe über das Raumbild des amerikanischen Westens - oder beschäftigen sich auf einer allgemeineren Ebene mit Phänomenen wie Rasse, Kultur und Ethnizität (zum Beispiel Eric R. Wolf im Heft drei 1993), dem stehen kleinräumige Arbeiten zu spezieller Fragestellung gegenüber. Im Rahmen eines Aufsatzes über die „Zigeunerverfolgung“ im frühneuzeitlichen Schleswig-Holstein, befaßt sich Martin Rheinheimer einerseits mit Sinn und Zweck der Verfolgung der Roma und Sinti, andererseits vermittelt er die Notwendigkeit einer konsequenten Quellenkritik. Der Autor zieht normative Quellen (Verordnungen, Schutzbriefe ...) heran und bringt Vorschläge der kritischen Interpretation. Unangenehm berührt dann ein achtlos angestellter Vergleich wie dieser: „Wir finden ihre Spuren [der Mentalität] z. B. in der Hysterie, wenn ein Wolf aus dem Zoo ausbricht und dann von Hunderten von Polizisten zur Strecke gebracht wird, oder in dem Holocaust an den Roma und Sinti im Dritten Reich, aber auch in den jüngsten Ausbrüchen von Fremdenfeindlichkeit“ (4. Jg., 1996, H. 3, 330). Mit Hilfe von Shakespeares „Twelfth Night“ rollt Hans-Dieter Metzger den Konflikt um die rechte Form der Geselligkeit zwischen puritanischer Elite und den Unterschichten im England des 16./17. Jahrhunderts auf. Metzger stellt darüber hinaus Überlegung zur Eignung des Theaters als Quelle historischer Studien an, befaßt sich mit gegebenen Erkenntnisschranken und daher wichtigem ergänzenden Material (4. Jg., 1996, H. 1). Ein zweiter Aufsatz in diesem ersten Heft 1996 ist dem Themenbereich Quellenkritik gewidmet. Jens Jäger analysiert Fotografien, die Reisende des 19. Jahrhunderts zur Erinnerung aus Java mitnahmen. Der Autor betont, daß der Wert dieser Bilder vor allem in ihrem umgekehrten Gebrauch liege: sie belegen die Existenz von Europäerinnen und Europäern in den Tropen, erlauben Blicke auf deren individuelle Tropenerfahrung; zur Repräsentation des Anderen und Fremden hingegen eignen sie sich kaum. Am bisherigen Umgang bemängelt er, daß Fotografien aus kolonialisierten Gebieten als Bestätigung europäischer Kolonisierungstechniken kultureller und politischer Art gesehen wurden, somit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf Umwegen das Wunschdenken europäischer Kolonialisten nachträglich zur Realität erhoben (4. Jg., 1996, H. 1). Bilder und die Arbeit mit diesem Material waren bisher in der Historischen Anthropologie schon mehrmals Thema, so auch in einer Arbeit Alf Lüdtkes zu Industriebildern und Arbeiterfotografien von der Jahrhundertwende bis in die 1930er Jahre (1. Jg., 1993, H. 3). In der dritten Nummer des Jahrgangs 1996 sind drei ethnologische Abhandlungen nachzulesen. Ute Luig berichtet die Ergebnisse einer Feldforschung im Gwembe-Tal/Zambia im südlichen Afrika. Sie führte dort lebensgeschichtliche Interviews mit Wanderarbeitern. Erstaunlich ist, daß sie auch über Schwierigkeiten der Feldforschung berichtet, sich traut, die Diskrepanzen zwischen den Erwartungen und tatsächlichen Forschungsergebnissen zu beschreiben. Über Fremd- und Eigenbilder der Kashinawa-Indianer im Wandel der Geschichte arbeitet Barbara Keifenheim. Seit 1977 hielt sie sich immer wieder zu Forschungen beim peruanischen Zweig der Gruppe auf. In den achtziger Jahren - durch Kontakt mit der nationalen Gesellschaft, Einführung des Schulsystems etc. - sind traditionelle Bilder der Kashinawa, so beobachtet die Ethnologin, in krisenhafte Bewegung geraten. Mittels Auswertung von Zeichnungen von Jugendlichen versuchte sie, sich über vorhandene Anschlußfähigkeit an Tradition und die Perspektiven des Wandels klar zu werden. Schließlich noch Martin Trenks Abhandlung über indianisches Trinkverhalten als Beispiel „authentischen Umgangs mit Nichtauthentischem“ bei den Waldindianern Nordamerikas in den Anfängen der europäischen Expansion. Durch sakralen Umgang, die Einbettung in Kult und Ritual, Art der Namensgebung und durch einen besonderen Trinkstil versuchten die Indianer, das ihnen fremde Getränk in ihre Kultur zu integrieren. Alkohol, meint Trenk, wurde für indianische Kulturen erst im Gefolge einer Reihe äußerer Katastrophen zum Problem. Auf die Spur von Ernährungsmythen vom 20. Jahrhundert bis in die frühe Neuzeit begibt sich Jakob Tanner. Ausgehend von der öffentlichen Auseinandersetzung um den Rinderwahnsinn, stellt der Autor im dritten Heft 1996 Überlegungen zu Begriff und Wesen des Ernährungsmythos an. In einer interessanten Fußnote äußert er sich über Chancen und Problematik der Methode des intertemporalen Vergleichs. Im letzten Aufsatz des Jahrgangs 1996 prüft Lukas Thommen, ob zivilisationstheoretische Überlegungen Norbert Elias’ für Umgang mit Nacktheit auch für das antike Griechenland zielführend sind. Thommen scheint der Umgang mit menschlicher Blöße nicht als Gradmesser für Zivilisationsstufen geeignet, dennoch eigne sich der zivilisationstheoretische Ansatz, um einen längerfristigen historischen Prozeß zu charakterisieren und Unterschiede zur neuzeitlichen Entwicklung hervorzuheben. Ein Probeexemplar der Historischen Anthropologie gibt es übrigens gratis! Nikola Langreiter Historische Anthropologie. Kultur Gesellschaft Alltag, Jg. 5, 1997, H. 1-3, 481 Seiten Zum zweiten Mal wird diese Zeitschrift hier besprochen. Die Aufmachung der Reihe blieb unverändert, auch inhaltliche Kontinuitäten sind zu beobachten - beibehalten wurde die Gliederung in Aufsatzteil und Forum (hier vor allem Diskussion, Bericht, Stellungnahme, Stand der Dinge, darin verpackt die eine oder andere Rezension aktueller Publikationen), und noch immer ist Vielfalt wichtiges Prinzip; manchmal scheint das Schlagwort „Historische Anthropologie“ den einzigen gemeinsamen Nenner der Beiträge zu bilden. Positiv an „diesem Schwamm“ ist, daß zwischen seinen Lamellen vieles erlaubt und möglich ist. Geographisch bilden Beiträge, die sich auf Deutschland beziehen, den Schwerpunkt - aber auch Schweden, Ungarn, die Philippinen, die Schweiz oder die Salomon-Inseln kommen vor. Die Zeitspanne erstreckt sich vom 1. Jahrhundert vor 0 bis zur Gegenwart. Die Themen sind breit gestreut von Rechtsgeschichte, Kulturgeschichte/Ethnographie, über Familie, Nationalismus, Alter, Kolonialkultur und Wissenschaftsgeschichte. Im Forum finden sich 1997 zahlreiche theoretische/methodische Beiträge, vielfach geht es um den Forschungsstand, um Kritik des bisher Erarbeiteten, Erweiterungen, neue Ansätze und Richtungen - etwa für Sportgeschichte, Familienforschung, Stadtethnologie, Geschichte der Geschwindigkeit. Das erste Heft des fünften Jahrgangs fand ich besonders interessant, unabhängig davon, daß die Volkskunde in dieser Nummer vergleichsweise stark vertreten ist: im Aufsatzteil mit Reinhard Johlers Arbeit über Vogelmord und Vogelliebe, einer Ethnographie des wechselvollen Mensch-Vogel-Verhältnisses. Am Beispiel der unterschiedlichen Verhaltensweisen und konträren Leidenschaften, die Vogelliebe historisch mit sich brachte und bis heute hervorruft, gelingt ihm, zu zeigen, welch kulturelles Konfliktpotential der Umgang mit Tieren beinhaltet - bezogen auf daran festgemachte, beziehungsweise festzumachende soziale, politische, religiöse, nationale Differenzen. Mit Wolfgang Jacobeits Standortbestimmung des Faches im Forum gibt es einen zweiten Beitrag volkskundlicher Provenienz. Anläßlich des 100jährigen Jubiläums der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde positioniert Jacobeit die (Schweizer) Volkskunde in der Moderne. In diesem Rahmen beschreibt er Personen, das Fach und seine Prämissen im Lauf der Geschichte, neue Themen und Orientierungen. Hinzu kommen lobende Rezensionen mehrerer Werke - etwa Gottfried Korffs „Volkskunst im Wandel“ oder des von Paul Hugger herausgegebenen „Handbuchs der schweizerischen Volkskultur“. Auch die übrigen vier Beiträge sind für Volkskundlerinnen und Volkskundler interessant: der Historiker Erhard Chvojka schreibt über Körperwahrnehmung - gemeint ist hier vor allem Schmerz/Schmerzfreiheit - als Maßstab der Altersempfindung im Lauf der Neuzeit. Beeindruckend ist die Breite der benutzten Quellen, verwirrend aber, daß der Autor ziemlich unbekümmert durch Epochen und Milieus hüpft, oftmals ohne konkrete Verbindungen herzustellen. Einer der Aufhänger ist Moliéres „Der eingebildete Kranke“; die Titelblätter des aktuellen Jahrgangs zeigen eine Szene daraus, wohl nicht, weil Chvojkas Aufsatz von besonderem Gewicht ist. Mit einer Vielzahl an unterschiedlichen Quellen arbeitet auch Jan Garnert, um die schwedische Kulturgeschichte der Beleuchtung des Dunkels näherzubringen. Ausgehend von materieller Kultur (Beleuchtungskörper, Energieformen und so weiter), vor allem auch bildnerischer Kunst und zeitgenössischen Dokumenten, zum Beispiel Tagebüchern, stellt er die Auswirkungen spezifischer Beleuchtung auf das Alltagsleben verschiedener Bevölkerungsgruppen dar. Die symbolische Ebene spielt dabei immer eine Rolle; am Schluß stehen methodische Bemerkungen zum Umgang mit heterogenen Quellen. Darauf folgt ein Beitrag zum Kult um den, nach der Abtrennung der DDR, verlorenen Nationalstaat Deutschland in der BRD. Die diskursive Konstruktion von Identität während der Zeit von 1953 bis Mitte der 1960er Jahre wird aufgerollt und in Kontext mit politischem und gesellschaftlichem Wandel gesetzt. Spannend ist die vergleichende Lektüre eines Beitrags im zweiten Heft: Peter Niedermüller beschäftigt die kulturelle Logik des Nationalismus im Postsozialismus. Er beklagt, daß die Forschung in diesem Bereich stagniert; die dominanten Modelle zur Erklärung des osteuropäischen Nationalismus seien als nicht stimmig und zu vereinfachend abzulehnen, die Idee des wiederaufflammenden Nationalismus im Osten sei zu kurz gegriffen. Niedermüller analysiert entlang der Linien Zeit, Geschichte, Vergangenheit und ihrer symbolischen Verknüpfungen untereinander und mit gegenwärtiger Politik den soziokulturellen Diskurs des „Nationalen“. Nochmals zu Heft 1, wo Doris Byer über den ersten Mordprozeß auf den südöstlichen Salomon-Inseln (1915) schreibt. Dieser Prozeß gilt als Anfang der britischen Kolonialverwaltung, als ein „zivilisatorisches Ereignis“. Die Autorin stellt die unterschiedlichen kulturellen Systeme am Beispiel eines Mordes, angesiedelt am Schnittpunkt klassisch melanesischer und westlicher Kultur, und seiner Folgen dar. Einer weiteren Autorin wurde im Forum Platz eingeräumt. Olga Katsiardi-Hering stellt verschiedene Wissenschaftsentwicklungen der historischen Familienforschung in Südosteuropa dar und diskutiert den Forschungsstand, Begriffe, Methoden und theoretische Probleme. Sie präsentiert eine Fülle neuer Literatur und gibt kritische Empfehlungen. Barbara Krug-Richter ist mit einem Artikel über das Rügegericht in der Westfälischen Gerichtsherrschaft Canstein zu Beginn des 18. Jahrhunderts die einzige Autorin des zweiten Hefts. Rechtsgeschichtliche Themen bilden einen gewissen Schwerpunkt dieser Nummer - nämlich mit einem Aufsatz zu familiärer Solidarität bezüglich Kriminalprozesse im alten Rom (1. Jahrhundert vor bis 2. Jahrhundert nach 0), der Autor will einen neuen Ansatz zur Behandlung des Themas „Rache“ innerhalb der römischen Rechtsgeschichte bieten; auch der Text über Emanzipationsbestrebungen von ungarischen Herrschaftsbeamten im 19. Jahrhundert läßt sich unter diese Kategorie einordnen. In einem Überblick zu historischer Anthropologie und frühneuzeitlicher Agrargeschichte deutscher Territorien schreibt Werner Troßbach der Volkskunde eine wichtige Rolle zu. „Nicht nur hinsichtlich der geschlechtsspezifischen Teilung der Arbeit wurde die ehemals belächelte Volkskunde wenigstens partiell zu einer neuen Leitfigur.“ (192) Entlang zahlreicher Studien erzählt er Fachgeschichte und kritisiert vor allem die mangelhafte begriffliche Reflexion, die sich wesentlich auf Forschungsergebnisse auswirkt. Ein letzter Aufsatz Quelle als Metapher ist Überlegungen zur Historisierung einer historiographischen Selbstverständlichkeit gewidmet. Im Forum findet sich ein Plädoyer für eine Tachostoria, eine Geschichte der Geschwindigkeit, mit dem Ziel, Paul Virilios Assoziationen und Hypothesen zu Geschwindigkeit empirisch zu überprüfen. Schließlich folgen Anmerkungen zu einer Kontroverse zwischen Ethnograph und Ethnographierten. Davon ausgehend, daß „die illiteraten Wilden von einst [...] kritische Leser ethnographischer Texte geworden“ (294) sind, nennt Volker Gottowik mehrere Beispiele für die Diskussion um das Problem der Darstellung fremder Gesellschaften. Ethnographie, so meint der Autor, könnte sich zur Disputation entwickeln, wenn die Ethnographinnen und Ethnographen bereit sind, den Diskurs „‘über’ den Anderen zugunsten eines Diskurses ‘mit’ dem Anderen zu überdenken.“ (301) Günter Müller schreibt über den Umgang mit popularer Autobiographik am Beispiel der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen in Wien. Er stellt das Archiv vor, behandelt die Geschichte der spezifischen Quellengattung, Zugangsweisen und Auswertungsmöglichkeiten, das Problem Erinnerung und den Bereich Quellenkritik insgesamt. Mit Perspektiven der Stadtethnologie befaßt sich Rolf Lindner. Er spricht sich für eine ganzheitliche Betrachtung des Untersuchungsfeldes aus; als geeignete Methode wird intensive Feldforschung genannt, die sich nicht mehr auf klassische Wege beschränken kann, sondern darüber hinaus Texte unterschiedlichster Art (Verkehrsnetze, Zeitungen, Magazine, Stadtführer, Filme, Lesebücher) berücksichtigen muß und sich auch unkonventioneller Erhebungswege bedienen soll. Auch das letzte Heft trägt nicht zur maßgeblichen Erhöhung des Anteils der Autorinnen bei: Frauke Volkland ist mit einem Text über bikonfessionelle Gemeinden im 17. Jahrhundert in der Schweiz vertreten, und im Forum fragt sich Karin Hausen, ob Historische Anthropologie ein historiographisches Programm sei. Sie geht der Frage anhand der Lektüre der ersten drei Jahrgänge der hier vorgestellten Zeitschrift nach, konzentriert sich dabei auf den Titel, auf Programm und Inhalt und den Aspekt der Neuerung. Die Historikerin kritisiert den unscharfen Kulturbegriff und befürchtet, daß das Fehlen des Begriffs Ökonomie im Untertitel der Zeitschrift nicht ohne Folgen für ihr Programm ist. Hausen vergleicht die Historische Anthropologie mit einem vielfältigen Patchwork und räumt der Disziplin Chancen ein, Fragen neu zu formulieren und neuartige Antworten zu finden. Ebenfalls im Forum betrachtet die Sporthistorikerin Swantje Scharenberg das Kanalschwimmen aus historisch-anthropologischer Perspektive. Zurück zum Aufsatzteil - hier geht es nochmals um Konfessionelles: Craig Koslofsky setzt sich mit nächtlichen Begräbnissen im lutherischen Deutschland gegen Ende des 17. Jahrhunderts auseinander. Anfangs waren diese heimlichen Beisetzungen ehrlos und Selbstmördern, Straftätern et cetera vorbehalten, langsam - der Autor bringt interessante Beispiele, um diesen Wandel nachvollziehbar zu machen und zu erklären - wurden diese Nachtbeerdigungen beliebtes Ritual. Ein weiterer Aufsatz behandelt die gesellschaftliche Rolle katholischer Feste auf den Philippinen in Bezug auf koloniale Kultur und antikoloniale Selbstbehauptung; konzeptionelle und theoretische Überlegungen stellt Manfred Hettling zur Analyse der Erinnerung an den Berliner 18. März 1848 an. Er zieht vor allem Presse- und Polizeiberichte heran, konzentriert sich auf die Jubiläumsjahre bis 1948. Im selben Heft findet sich eine Studie zu einem Familienkonflikt in der rheinischen Aristokratie des ausgehenden 18. Jahrhunderts - interpretiert unter Anwendung von Begriffen aus der Ideen- und Repräsentationsgeschichte - und ein Beitrag über Kulturarbeit in der DDR am Beispiel eines Erdöl-Kombinats in Schwedt 1960-1990. Außer den beiden schon erwähnten Texten von Hausen und Scharenberg bringt das Forum noch Auszüge eines von Stuart Hall für die Zeitschrift „New Left Review“ verfaßten Nachrufs auf den vor einem Jahr verstorbenen Sozialhistoriker Raphael Samuel. Nikola Langreiter
|