Der Alltag – ein Nachruf

„Der Alltag war immer konzipiert als ein gescheiter Lebenswegbegleiter, als eine phantasievolle und dem Reflektieren (nicht dem Schwärmen) zugewandte Publikation für alle Situationen.“ (Keller 1993, 1)

Eigentlich hätte an dieser Stelle die Rezension der Zeitschrift Der Alltag beginnen sollen; leider hat die Zeitschrift aber 1997, genau zum zwanzigjährigen Bestehen, ihr Erscheinen eingestellt. Deshalb folgt statt einer Besprechung ein Nachruf auf den Alltag. Die Zeitschrift war nie als wissenschaftliches Periodikum konzipiert, trotzdem verdient sie meines Erachtens die Aufnahme ins Jahrbuch des Vereins für Kulturwissenschaft und Kulturanalyse. Der Nachruf entsteht aus der tiefen Überzeugung, daß die „kulturwissenschaftliche Relevanz“ eines Periodikums kein Kriterium ist, das sich allein aus Formalismen ableiten läßt.

Die Geschichte des Alltag beginnt 1977 in Zürich. Zwei junge Ethnologiestudenten, Walter Keller und Nikolaus Wyss, die genug hatten von der Theorielastigkeit ihrer Wissenschaft und der Wissenschaft in den 1970er Jahren allgemein, veranstalteten damals in einem aufgelassenen Zürcher Kino eine Talkshow mit dem Titel „Sensation des Gewöhnlichen“. Sie führten dabei Gespräche mit „Helden des Alltags“ (Putzfrauen, Straßenkehrer et cetera) und veröffentlichten Protokolle dieser Gespräche im Sensationsblatt des Gewöhnlichen, aus dem sich schließlich Der Alltag entwickelte. Seit 1992/93 erschien Der Alltag – bedingt durch einen Verlagswechsel – in Berlin (Michael Rutschky wurde Chefredakteur). 1997 schließlich erschien eine Jubiläumsnummer zum 20jährigen Bestehen der Zeitschrift (Nr. 77/78), die zugleich auch das Ende dieses Periodikums markierte. Grund für die Einstellung des Alltag war wiederum ein Verlagswechsel, in dessen Verlauf viele der zirka 2.000 Abonnements gekündigt wurden.

Der Alltag war – wie schon gesagt – nicht als wissenschaftliche Zeitschrift gedacht, das wird aus der Gründungsgeschichte klar. Angestrebt wurde Genrefreiheit, also ein offener Zugang und vor allem auch ein Schreibstil, der jenseits aller Normierungen liegt (was nicht bedeutet, daß nicht auch formal wissenschaftliche Arbeiten Eingang gefunden haben). Auch die Abonnentinnen und Abonnenten rekrutierten sich nicht vorwiegend aus dem Kreis der Wissenschaft. Hauptsächlich wurde Der Alltag von Personen aus der Kunst- und Medienbranche gelesen.

Schon von Anfang an legte Der Alltag großen Wert auf Bilder und Fotos, ein Unterschied zu Zeitschriften ähnlicher Couleurs. Keller und Wyss charakterisierten 1982 die Blattlinie folgendermaßen:

„Normalität aufbrechen, Gewöhnliches zum Thema und damit außergewöhnlich machen, Rollenbilder erweitern oder korrigieren; sich nicht mit der Ansicht zufrieden geben, Alltägliches sei schon immer so gewesen und werde immer so bleiben, durch neugieriges, genaues Hinschauen ein Bewusstsein fördern für die Gemachtheit des Alltags – das sind Eckpfeiler unserer publizistischen Arbeit [...].“ (Keller/Wyss 1982, 8)

Auf Leserinnen und Leser aus dem wissenschaftlichen Milieu mag diese Beschreibung der Blattlinie vielleicht etwas unscharf wirken; ein Vorwurf aber, den man gerade auch der Volkskunde machen könnte, wo Versuche, das Fach inhaltlich oder methodisch genauer zu positionieren, nicht selten auf Widerstand und Ablehnung stoßen. Im Falle des Alltag war aber gerade diese Unschärfe des Konzepts das belebende und interessante Moment: Zum Thema, unter dem jeder Band der Zeitschrift stand, bot sich den Leserinnen und Lesern ein Sammelsurium verschiedenster Textsorten, ein Kosmos an vielfältigen Zu- und Umgängen.

Gerade diese Genrefreiheit des Alltag war für mich immer erfrischend und gerade Artikel, die nicht den Anspruch der Wissenschaftlichkeit hatten, amüsierten und regten auch zum Reflektieren an. Oft brachten mir diese Artikel mehr Erkenntnis als wissenschaftliche Arbeiten.

Umso mehr bedauere ich das Ende der Zeitschrift.

Eine wichtige Entwicklung in der Medienlandschaft hat Der Alltag mitbestimmt: Es gibt kaum eine deutschsprachige Tageszeitung, die heute nicht eine Alltagsrubrik hat, eine Rubrik, die zwischen „Hochfeuilleton und Witzseite“ liegt (Rutschky 1998).

Literatur:

Keller, Walter/Nikolaus Wyss: Vorwort. In: Dies. (Hg.): Reisen ins tägliche Leben. Zürich 1982, 7f.

Keller, Walter: Vorwort. In: Der Alltag. Die Senstationen des Gewöhnlichen. Obsessionen, 60, Berlin 1993, 1.

Rutschky, Michael: Telefon-Interview, 1998.

Manuel Mattweber